(Malte Klingenhäger)

Einige Wochen nach ihrem Gespräch raste Bao auf seinem Scooter durch die riesigen Hallen, in denen die unzähligen Energiespeicher der Henne sich kilometerweit erstreckten. Er war verärgert. Juan und er hatten sich soeben gestritten. Der Sicherheitstechniker hatte ihn zu überreden versucht, die Pause etwas zu verlängern und mit ihm zusammen einen Brief zu besprechen, den er an die Gewerkschaft schicken wollte. Als Bao vorgeschlagen hatte, dies nach der Arbeit bei einem Bierchen zu klären, war Juan wütend geworden. Seltsamerweise hatte es geschienen, als wolle der junge Mann den Streit provozieren, was Bao nur noch wütender gemacht hatte. Er war dann alleine zur üblichen Tour aufgebrochen, konnte sich aber nicht richtig auf seine Aufgabe konzentrieren. War Juan vielleicht labil? War sein Problem mit der Versetzung ins Innere der Henne nicht gelöst? Vielleicht hätte er doch nicht so schnell abdampfen sollen, warf Bao sich vor, immerhin waren sie beide noch eine Weile allein im Komplex. Die Energiespeicher waren zwar seit heute wieder gefüllt, jedoch stand die nächste Übertragung erst in einer Woche an und die anderen Beamten blieben während dieser Zeit noch zuhause. Sie würden erst zum Wochenende wieder in den Komplex einfallen. Es schien irgendwie angebracht, sich mit dem derzeit einzigen menschlichen Kontakt auf der Arbeit halbwegs zu verstehen.
Bao wendete seinen Scooter so abrupt, wie zwischen den großen Energieschienen möglich und raste zurück zum Pausenraum. Dort angekommen stellte er allerdings fest, dass dieser leer war. Bao versuchte Juan mithilfe des Trackers aufzuspüren, doch das System schien offline zu sein. Schlimmer noch, mit dem gesamten Sicherheitssystem stimmte etwas nicht. Es wirkte funktionstüchtig, reagierte aber auf keinerlei Input – weder von den Sensoren, noch den Kamerascannern, geschweige denn der Konsole, auf die Bao jetzt panisch einhämmerte. Er konnte den Fehler auf die Schnelle nicht finden und rief aufgeregt über Funk das Wachpersonal zusammen. Dummweise ließen sich die Haupttüren ohne den Computer nicht automatisch öffnen. Die Wachleute würden die Henne manuell betreten müssen, was Zeit kostete. Um diese nicht zu verschwenden, beschloss Bao sich wieder auf den Scooter zu setzen und Juan selbst zu suchen. War es jemandem gelungen, in die Computersysteme einzudringen? Suchte Juan bereits den Fehler? Er fuhr in Richtung der Einspeisungskammer und des Büros, wie sie jenen kleinen, gut gesicherten Raum nannten, in dem der abgeschirmte Computer stand, mit dessen Hilfe die Nachrichten versandt wurden. Die tatsächliche Einspeisung fand in der großen Kammer dahinter statt, die tatsächlich so imposant war, wie man sich eine Kathedrale vorstellte, in der dem Universum regelmäßig die Zunge rausgestreckt und die Zeit bezwungen wurde. Ein Raum voller Prismen, Regenbögen und rätselhaft feiner Energiefäden. Jedenfalls für eine Nanosekunde, nämlich dann, wenn die gespeicherte Energie der Henne freigesetzt wurde, um eine Nachricht zu versenden. Ansonsten war es eine stinknormale Stahlkammer mit drögen Platinen an den Wänden und einer Pyramide in der Mitte, die nervtötend summte.
Als Bao nach einiger Zeit dort ankam, stellte er zu seiner Beruhigung fest, dass zumindest die separate Sicherheits-KI noch zu funktionieren schien und das Büro völlig abgeriegelt hatte. Allerdings stand die Tür zur Einspeisungskammer offen, was ihn nach seinem Taser greifen ließ. Bao verfluchte sich dafür, keinen Schein für eine echte Waffe gemacht zu haben, als er den ersten Schritt in die Kammer tat. Im Glanz der Pyramide erkannte er Juan, der sich just in dem Moment zu ihm umdrehte, als er dem Raum betrat. Zu seinem Erstaunen riss der junge Mann seinen eigenen Taser hoch und zielte auf ihn. Im Schatten hinter Juan entdeckte Bao einen weiteren Mann, der mit einem tragbaren Computer und allerlei Diamantkabeln hantierte.
„Deswegen sollte ich länger Pause machen? Damit dein Kollege sich hier einschleichen und die Henne sabotieren kann?“ fragte er. Jetzt drehte sich auch der Mann am Boden zu ihm um. Juan senkte langsam seinen Schocker und deutete seinem Mitverschwörer weiterzumachen.
„Wir wollen die Henne nicht sabotieren. Wir schicken bloß eine Nachricht. Wir speisen sie direkt ein. Das Büro ist abgeriegelt.“
„Welche Nachricht kann so wichtig sein, dass du für sie deinen Job aufs Spiel setzt?“
„Wir warnen die Menschen vor einer Katastrophe unbestimmter Art an diesem Ort. Ungefähr zu Baubeginn der Henne werden sie die Nachricht erhalten.“
„Ihr wollt verhindern, dass der Komplex gebaut wird?“
„Wir wollen, dass die Menschen die Henne kritischer sehen, als sie es heute tun. Wir wollen bloß eine gesunde Skepsis in die Köpfe pflanzen, damit sie früher anfangen nachzudenken. Der ganze Komplex hier ist doch genau zu dieser Art Qualitätskontrolle erschaffen worden!“
„Aber ihr dreht das System um! Ihr wollt die Vergangenheit Dinge überprüfen lassen, über die sich die Zukunft nicht sicher ist?“ Juan zuckte mit den Schultern. Bao trat einen langsamen Schritt auf ihn zu und senkte seinen Taser langsam.
„Wann?“
„Sobald ich Maarten hier darum bitte.“ Er zeigte auf den Mann hinter sich, der seine Arbeit gerade beendet hatte. Bao dachte einen kurzen Augenblick nach, steckte dann seinen Taser in den Holster und marschierte langsam aus der Kammer. Hinter ihm heizten die Energieschienen auf, die Schleusen öffneten sich und für eine Nanosekunde war der Raum von feinen Energiefäden und seltsam bekannt wirkenden Mustern durchzogen, dann nahm die Vergangenheit ihren Lauf.

Zurück zur letzten Entscheidung.

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