Malte Klingenhäger
Wer will den Autor schon tot sehen?
Wenn Studenten der Literaturwissenschaft zu Beginn ihres Studiums mit der poststrukturalistischen Entzauberung des Autors konfrontiert werden, kommt es in Seminarräumen zu ersten Stellungskämpfen. Soweit es der Bachelor noch zulässt, soll der akademische Nachwuchs immerhin zugleich wissenschaftlich und eigenverantwortlich arbeiten, lernen, feiern, seine Eltern beruhigen UND den Tod des Autos akzeptieren. Unmöglich! — schreien einige. Entsprechend muss von Seiten der Dozenten mühsam für Theorieverständnis geworben, müssen Missverständnisse rechtzeitig ausgeräumt und reine Lippenbekenntnisse des insgeheim wissenschaftsreaktionären Studentenpacks gnadenlos entlarvt werden.
Ist die Realität wirklich so schrecklich verbissen? Nein, aber eine Reflexion über die eigenen Befindlichkeiten in Sachen Autor und Text ist für alle, die sich in Literatur versuchen – sei es als Rezipient oder Produzent – fruchtbar und meist unumgänglich. Spätestens dann, wenn der Autor unverhofft wieder in Erscheinung tritt, obwohl man ihm schon abgeschworen hatte.
Und so wirklich verschwunden ist er ja auch nie. Sein ‚Da-sein‘ wird von der Literaturwissenschaft auch gar nicht in Frage gestellt. Das Katalogisieren der Nationalbibliothek würde ohne ihn schließlich fast unmöglich! Dazu schwärmen auch überzeugt postmoderne Literaturwissenschaftler nach wie vor von ihren Lieblingsautoren, geben Anekdoten über diese zum Besten oder schicken sich Postkarten mit verträumt in die Ferne blickenden Schriftstellerportraits. Erst kürzlich traf ich eine Dozentin bei einer Lesung, auf der sie sich der physischen Präsenz der lesenden Autorin zweifelsfrei versichern konnte. Also alles nur fauler Zauber?
Wer sich mit Barthes’ Text „Der Tod des Autors“ von 1968 beschäftigt, merkt schnell, dass der Titel zwar provokant, aber kein Geständnis eines mutmaßlichen Gewaltverbrechens ist. Wie Kerstin Mertenskötter bereits im vergangenen Monat aufgezeigt hat, liegt die Leistung der Barthes’schen Thesen hauptsächlich darin, den Text und Leser gegenüber dem Autor zu emanzipieren. Damit erzählt man Autoren freilich nichts Neues. Zumindest denen nicht, die angesichts der in der Literaturszene unvermeidlichen Massen von Geld und Groupies die Bodenhaftung bewahren und ihre Grenzen kennen: Texte, die sich wie von selbst schreiben, Figuren, die einem fremd werden oder Worte, die sich heimlich einschleichen — diese Phänomene gab es schon immer. So beschwerte sich beispielsweise Alfred Döblin über die Eigendynamik, mit der ihn „Berlin Alexanderplatz“¹ noch während des Schreibprozesses überrumpelte. Am Ende wurde er seines Textes nicht einmal mehr mithilfe eines dazwischen plappernden Erzählers Herr.
Aber wir mögen es nicht, wenn diese Phänomene erklärt werden. Es ist fast ein wenig unangenehm, wenn der Schaffensprozess entzaubert wird. Als Leser sind uns Autor und Werk geliebte Objekte der Identitätsfindung — Teil unserer ganz persönlichen Lebensnarration. Der Prozess des Lesens ist ein sehr intimer, und wir sehnen uns nach der Mystik, die die Entstehung eines Buches bedeuten kann. Irgendwann werden wir selber Autoren, manche von uns nehmen sich dann vielleicht sogar als solche wahr. In dieser Position muss uns die wissenschaftliche Einordnung noch persönlicher treffen. Erst in der Reflexion können wir uns als postmoderne Autoren wahrnehmen, denn der Sprung zwischen Beobachter und Akteur ist immer nur zeitversetzt möglich. So fühlen wir uns beim Schreiben meist als klassische Schöpfer.
Doch ob nun ‚das Genie Texte schöpft‘ oder der moderne Autor ‚Worte und Zitate webt‘, könnte uns eigentlich egal sein, denn keine Literaturtheorie hält den Schreiberling vom Schreiben ab. Die Wissenschaft bietet den Autoren jedoch einige spannende Ansatzpunkte, die Eigenheiten des Schreibens aufzudecken. Die Prozesse zu benennen und zu hinterfragen, die sonst versteckt oder allzu beiläufig passieren, kann inspirieren und uns vielleicht helfen, doch wieder mehr Kontrolle über unseren Text zu erlangen. Sie zeigt uns neue Funktionen und Wirkungen von Text auf, die Autoren beherrschen lernen und weiterentwickeln können. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass die Literaturwissenschaft vorrangig beschreibend arbeitet und entsprechend nur ‚bewusst‘ machen und ‚erklären‘ kann. Sie kann den Autor ärgern, aber nur schwerlich töten.
Ganz im Gegenteil hilft sie mir persönlich sogar dabei, ihn wieder sichtbar zu machen. Nicht im wissenschaftlichen, aber im bescheiden kollegialen Sinn. So taucht der Autor als Ordnungsmacht seines eigenen Textes immer dann wieder vor meinem Leseauge auf, wenn ich ihn auf eines der typischen Schreibprobleme treffen sehe. Beispielsweise das Problem der Figuren-Motivation. Marc Bensch setzt seine Figur beispielsweise bereits im Titel seines Romans „Der vorsätzlich Handelnde“ (PDF zum kostenlosen Download) mächtig unter Druck, thematisiert im Buch den Antrieb des Protagonisten und die Auswirkungen dessen Handelns auf sein soziales Umfeld. Beim Lesen von Håkan Nessers Krimi „Die Frau mit dem Muttermal“² stolperte ich bereits auf der zweiten Seite über folgenden Abschnitt, in dem die Mutter der späteren Täterin, ihrer Tochter, eine etwas unbestimmte, aber eindrückliche Anweisung gibt:
„Mach, was du willst […] handle, meine Tochter! Tu etwas richtig Großartiges, so dass ich von da oben im Himmel applaudieren kann. Während sie das sagte, hatte ihre Mutter ihre Hand zwischen ihren beiden rissigen und kraftlosen Händen gehalten.“
Sofort habe ich einen Autor imaginiert, der vor meinem inneren Auge den Platz der Mutter einnahm und seine Figur verzweifelt dazu zu bringen versucht, die Handlung anzustoßen und seinem Ermittler einen Fall zu präsentieren. Und da war er, der Autor – und da war sie, die Autorordnungsmacht, vereint in meinem Kopf. Gemeinsam in der Performance des Lesens und der Phantasie feiernd und einen großen Teil dessen ausmachend, was meine Begeisterung für das Lesen und Schreiben am Leben hält. Die vermeintlichen Widersprüche zwischen Theorie und der eigenen Wahrnehmung haben sich als unsinnige Befindlichkeiten zu erkennen gegeben und mit einem wohligen Plopp aufgelöst. Ich habe meinen Frieden mit der modernen Literaturwissenschaft machen können: Auch wenn alle Autoren irgendwann sterben, totzukriegen sind sie nicht.
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