Malte Klingenhäger

La Niña

Malte-Kurzgeschichte-La-NinaJedes Erwachen schöner als das vorige: das Licht der Sonne heller, die Laken weißer, die Luft milder und der Gesang der Vögel anregender. Das sanfte Profil des elfenbeinfarbenen Pos meiner Geliebten geht neben mir in den verspielten Wellen der weißen Sommerdecke auf. Ihr leises Murmeln, wenn ich ihr sanft über ihre Backen streichle, klingt wie ein leiser Trommelwirbel, der erwartungsvoll auf etwas, auf mich und in die Welt hinauswill. Ich atme kräftig ein.

“BÄM, BABY!”, schreie ich, und die Kraft meiner Stimme reißt die auf 1.80 Meter ausgestreckte Weiblichkeit neben mir endgültig aus dem Schlummerland. Ich recke mein Kinn, blicke ihr tief in die Augen und schlage dabei die Decke zurück. Ich sehe es in ihrem Blick, sie spürt, sie fühlt, sie weiß, dass dieser Tag rechtmäßig mir gehört. Sie weiß, dass ich jede Sekunde meines honigplasmafruchtigenergetischen Lebens mit ihr teilen will, und doch glänzt auch in ihren Augen bereits ein wenig der Furcht, die mich den ganzen Tag begleiten wird: in den Seelen meiner Mitmenschen gedeihend, die in Kontakt mit dem unaufhaltsamen Tornado kommen, in dessen Zentrum ich mich befinde. Kein Stein auf dem Weg wird mein Karma kümmerlich weinen lassen. Stattdessen wird es sich aufbäumen, anspannen und brüllen, bis die Götter an mich glauben.

Die Farb-Diversity meines Müslis lacht mir aus der Schale entgegen: die Milch alpinaweiß, die Schokolade braun wie Holger Apfels Herz, die Früchte bunt wie ein neugeborener Regenbogen und die Flakes montezumagolden. Der Löffel belädt sich wie von selbst. Milchbenetzt glänzend fügen sich die Bestandteile zusammen. Präsentieren sich bald perfekt angeordnet, während ich sie langsam an meinen Augen vorbei vor meinem Gesicht absenke und genussvoll in die Mundhöhle führe. Das Aroma greift und zerrt an meinen Geschmacksnerven, lange bevor ich die Berührung spüre. Ich halte ein. Ich gebe nach. Mein Kiefer malmt, auf und ab. Der knusprige Beißreiz der Flakes, die Kaskade der Schokolade, der Geschmack der Milch und die Süße der Früchte überwältigen mich. Immer wieder balle ich meine Hand zur Faust, kann die Energie nicht fassen, fühle mich wie ein Reaktor vor der Kernschmelze. Der letzte Bissen verschwindet in meinem Mund, könnte zuviel sein, will überlaufen. Ich werfe den Löffel hin, gebe der Energie ein Ventil und haste schnell zurück ins Schlafzimmer. Ich schlüpfe in die Sachen, die von der Hausgöttin auf dem bereits gemachten Bett für mich arrangiert wurden. Ich bin zu hastig, stolpere ein wenig, lache laut und genieße das Ambrosia, dass durch meine Venen fließt. Ich strahle, so sehr, dass ich mir vorstelle, mit jeder Lage Kleidung nicht mich vor der Kälte sondern meine Umwelt vor meiner inneren Hitze zu schützen.

Mit einem kindlich freudigen Zirpen werde ich von meinem Auto begrüßt, als ich den Daumen tief in das Schlüsselsymbol der Fernsteuerung bohre. Das fast konturlos schwarze und dabei doch so wohlgeformte Projektil vor mir schafft es, Vorfreude und Erhabenheit in Einklang zu bringen. Ich lasse mich in die Polster fallen, lächle mir im Rückspiegel noch einmal zu und drehe den Zündschlüssel um. Der Motor – in deutscher Tradition aus erlesenem Sternenstaub gefertigt – grüßt mich, in dem er all seine Zylinder hebt und einen Schluck Benzin brüllend in einen großen Becher Freiheit für mich verwandelt. Meine Frau steht in der Tür und lacht mir zu.
“Wir und unser Geschlecht”, ruft sie zwinkernd.
“Genau deine Zielgruppe, Puppe”, rufe ich zurück und lasse mich von einer Herde Pferde lachend auf die Straße tragen. Ich schließe das Fenster und schalte das Radio an. Getragen vom Röhren des Motors breitet sich der Bass in der Kabine aus, will mich zurückdrängen, hinauszwängen und unterwerfen, doch ich passe mich an. Ich lenke und trommle, gebe Gas und tanze, bleibe aufmerksam und gehe ab. Die Musik gehorcht jetzt mir, ordnet sich sogar dem Motor unter, sorgt für Schwingung und Eleganz. So vergeht die Fahrt wie im Gleitflug, wie geschmiert und doch mit soviel Grip wie Schmiergelpapier auf Elefantenhaut. Als Mischung aus Fackel, Fahne und Blitz gleite ich auf den Mitarbeiterparkplatz. Ein Derwisch auf dem Asphalt, der sich noch einmal rasend schnell dreht und dann in der Menge der Tänzer verschwindet.

Die Arbeit ist ein Gewirr aus Menschen, ein Labyrinth der Möglichkeiten: Verstecken, Erfahren, Paaren, Schwärmen und Nutzen, immer neu, immer bekannt, immer aufs Ganze. Professionell sein, wirken, agieren und leiten und egal wann und wo und ob. Ein Harfenspiel, ein Gitarrensolo, eine Oper für Menschen, deren Augen und Ohren offen für die allgegenwärtige Motivation durch die Angst vor dem Mittelmaß sind. Ein Spielplatz für einen Gamechanger wie mich. Eine Laterne, die Entfalter anzieht. Die Chance meines Lebens, die ich nutze, die mir nützt und uns alle miteinander tanzen lässt. Ich schreie, flüstere, hebe hoch und lasse fallen, Pyramiden werden gebaut, mit Sand bedeckt, Kollateralschäden beseitigt, Frieden geschlossen und Kriege angezettelt. Dramen um mich herum, das allsehende Auge des Sturms in mir. Ich muss alles sein, ich darf alles sein, ich kann alles sein. Be water my friend, so erfrischend wie eine Bergquelle – synchron, schön. Symphonie, Energie. Ich darf ich sein, mich ausleben und angeben. Kurz vor Schluss lache ich noch einmal gemeinsam mit meinen Kolleginnen über einen geistreichen Witz, drücke sie zum Abschied, verteile roten Lippenstift durch Wangenküsschen und kleine Schokoladentafeln.

Das Abendessen schlummert bereits im Magen, ist kaum noch zu hören geschweige denn zu spüren, als ich unter die Bettdecke gleite und mich an meine Liebste schmiege. Wo ihre Haut aufhört und die Decke beginnt, ist kaum zu ertasten, nur die Wärme verrät sie. Leise hauche ich ihr einen Dank für unser gemeinsames Leben ins Ohr und beginne ein wenig an ihr zu zuppeln. Wir lachen, werden ein Kaminfeuer, eine berühmte Montage aus einem Leslie Nielsen-Film, und bestätigen uns durch den mühseligen Verbrauch aller Reserven, dass unser Leben keine Chance gegen uns hat.
“Werden wir es immer so gut haben?” fragt sie mich später vorsichtig.
“Einstellungssache”, antworte ich selig und schlafe ein.

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