Malte Klingenhäger

Klar-Träum-Ich

Malte-Kurzgeschichte-klar-traeum-ich“Außerdem musst du ein Gefühl für das Unmögliche bekommen”, fügte Ludger hinzu, worauf ihn Moritz verständnislos anblickte.

“Ich verstehe das Überprüfungsprogramm doch. Es gibt mir die Fächer aus, die ich kontrollieren muss. Mit Unmöglichkeiten hat das nichts zu tun. Es berechnet Wahrscheinlichkeiten menschlichen Versagens”, warf Moritz aufmüpfig ein. In den Augen des jungen Mannes konnte Ludger keine Ignoranz erkennen, eher ein gespanntes Warten, wie sein befristeter Mentor auf sein Aufbegehren reagieren würde. Der alte Herr seufzte. Zwei Tage waren viel zu wenig, um seinen Nachfolger umfassend einzuarbeiten.

“Kommt es dir nicht komisch vor, dass du ein Computerprogramm benutzen sollst, um die Fehler eines anderen Computerprogramms zu bereinigen?” fragte er und zeigte auf die beiden Monitore, die das enge Büro mit mehr Hingabe beleuchteten, als die Leuchtstoffröhre über ihren Köpfen. “Wir sitzen hier in einem der weltgrößten Logistikzentren. Unmengen von Sendungen, die täglich an- und ausgeliefert werden. So viele, dass eine gewaltige EDV Anlage nicht nur die Waren, sondern auch die Angestellten koordinieren muss. Und trotzdem …”

“Und trotzdem passieren Fehler”, fiel ihm Moritz ins Wort. “Meinen Sie das mit Unmöglichkeiten?”

“Sozusagen.”

“Aber diese Fehler sind doch menschengemacht. Dem Computer passiert so was nicht.”

“Auch die Programme des Computers sind menschengemacht. Also wirst du mit ihrer Hilfe allein nicht alle Fehler ausmerzen können. Etwas Instinkt ist immer dabei.”

“Ich soll lernen, über die Programme hinaus zu denken? Ist es das?”

“Richtig, und mit dem Unmöglichen rechnen,” wiederholte Ludger und fügte, als er Moritz Kopfschütteln sah, hinzu: “Akzeptier’ meine Worte einfach. Es ist mehr eine Warnung als eine Anweisung.”

Das veranlasste den jungen Mann sich misstrauisch vorzubeugen. “Eine Warnung?” fragte er.

Ludger ließ sich auf seinem Sitz zurückfallen und schloss für einen Moment die Augen. Sollte er es wagen, sich dem Jungen zu offenbaren? Er hatte weniger Angst davor ihn zu verschrecken, als sich selbst lächerlich zu machen. Doch was sollte es schaden? Ab heute Abend würde ihn dieser Laden ohnehin nie wiedersehen. Tagsüber jedenfalls. Ludger öffnete seine Augen. Moritz hatte ihn wohl belustigt beobachtet. Sein leichtes Grinsen wurde vom Licht der Bildschirme in kränkliches Licht getaucht.

“Der Job hier hat Nebenwirkungen”, begann Ludger zu erzählen. “Die erste Woche ist Routine und bereits gegen Ende wirst du dich genauso langweilen, wie bei jeder anderen Arbeit auch. Mit der Zeit wirst du schneller, effizienter, entwickelst den Instinkt, von dem wir sprachen.” Er machte eine bedeutsame Pause. “Dann aber wirst du ein Misstrauen entwickeln, ein Gefühl dafür, wenn etwas nicht stimmt. Das wird dir helfen, Dinge wiederzufinden, die falsch abgelegt, falsch bezeichnet oder einfach verwechselt wurden. Du wirst zum Beispiel anfangen, gezielt einige Fächer zu öffnen, die das Programm dir gar nicht zugeteilt hat, bloß, weil du so eine Ahnung hast. Du wirst sogar bemerken, wenn ein besonders schussliger Mitarbeiter Urlaub hat. Einiges davon mag Einbildung sein, aber irgendwie entwickelt sich dein Bauchgefühl in einem Maße, als ob es mit der kühlen Logik des Computers konkurrieren wolle.”

“Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Job so erfüllend ist”, ätzte Moritz und unterdrückte ein Schmunzeln.

Da geht er hin, sein Respekt vor mir, dachte Ludger. “Lach’ du nur, aber spätestens in zwei oder drei Monaten, wirst du eines Morgens aufwachen und an meine Worte denken.”

“Wird es so lange dauern, bis ich erleuchtet werde?”

“Erleuchtet? Gar nicht mal so falsch”, sinnierte der ältere Mann, der nun alle Vorsicht fahren ließ. “Ich werd’ dir erzählen, was mir passiert ist. Nach zwei oder drei Monaten – so genau weiß ich das nicht mehr – hat sich mein Bauchgefühl sogar im Schlaf gemeldet. Ich habe einen Abenteuertraum erlebt und auf eine seltsame Art passte alles nicht so wirklich zusammen, was ja ein allgemein akzeptiertes Markenzeichen von Träumen ist. Jedenfalls bin ich nicht aufgewacht, wusste aber von diesem Augenblick an, dass ich träume.”

“Luzides Träumen nennt man das”, belehrte ihn Moritz. “Ist das die Nebenwirkung des Jobs, dass man sich des Traumzustandes bewusst wird?”

“Ja, das ist eine der Nebenwirkungen. Du vertraust nicht einmal mehr der Nacht.”

Moritz zuckte mit den Schultern. “Und? Ist das nicht schön? Ich habe gelesen, dass sich manche Leute diese Fähigkeit regelrecht antrainieren und sich freuen, solch ein zweites Leben führen zu können.”

“Oh, ich habe mich gefreut, vor allem, weil es regelmäßig passierte. Ich habe von der Arbeit geträumt, von den endlosen Regalen und abertausenden Fächern, erkannte dann den Traumzustand und brachte ihn unter Kontrolle. Jede Nacht aufs Neue. Seitdem habe ich bis zum heutigen Tag das, was du grade ein zweites Leben genannt hast.”

“Ok?” entfuhr es Moritz. “Wenn mir das auch passiert – und ich bezweifle das stark, denn ich kann mich an meine Träume selten erinnern – dann ist das doch eine tolle Sache!”

Ludger drehte sich auf seinem Bürostuhl in Richtung des Metallregals neben dem Schreibtisch. Er fluchte, als er mit den Knien dagegen stieß und es blechern scheppern ließ. Ein gelber Plastiksaurier, das Überbleibsel eines vergangenen Merchandisingexzesses, fiel ihm von oben herab in den Schoß. Ludger drehte sich wieder zu Moritz und hielt ihm die handtellergroße Monstrosität hin. Der junge Mann nahm das Spielzeug entgegen und betrachtete es neugierig.

“Was ist das? Ein Geschenk?”

“Eine von diesen Unmöglichkeiten, vor denen ich dich warnen will. Und damit meine ich nicht die scheußliche Farbe.”

Moritz hörte ihm wieder aufmerksamer zu, er war anscheinend neugierig geworden. Ludger erzählte zufrieden weiter: “Ich habe von diesem Ding geträumt. Ich lag am Strand, wo ich Nachts gerne mal verweile und sah ihn von meiner Liege aus im Sand liegen. Halb eingebuddelt, als wäre er angeschwemmt worden. Ich bin hin geschwebt, habe ihn betrachtet und erst mal wieder vergessen.”

“Also haben Sie ihn hier gesehen und in Ihren Traum eingebaut?” fragte Moritz.

“Nein”, sagte Ludger bestimmt. “Ich habe von ihm geträumt und ihn dann erst hier gefunden.”

Moritz Augen wurden zu Schlitzen, aber Ludger hielt seinem Blick stand.

“Unmöglich”, murmelte der junge Mann.

“Es war aber so. Nur musst du meinem Wort glauben, denn die leicht bekleideten Damen, die mir am Strand Gesellschaft geleistet haben, sind leider keine brauchbaren Zeugen,” scherzte Ludger, der sich fragte, warum er sich dem Jungen anvertraute. “Ich weiß, selbst wenn du mir glaubst, hältst du es für einen Zufall, der bei all dem Zeug, das hier gelagert wird, schon mal passieren kann. Aber ich schwöre, ich habe dieses Viech in meinem Traum gesehen und als ich einen Tag später den Fall eines falsch versandten Paars Schuhe überprüfen wollte, habe ich aus einem Gefühl heraus das danebenliegende Fach geöffnet und da lag das Teil, komplett mit Etikett und Versandschein.”

“Ja, ich denke wirklich, dass es ein krasser Zufall war – wenn Sie sich nicht vertan haben,” sagte Moritz nachdenklich.

Ludger winkte ab. “Ich bin sofort an den Computer und habe geschaut, was ich zu dem Artikel im System finde”, flüsterte er verschwörerisch.

“Und?” wollte Moritz wissen.

“Laut Computer war das Fach leer.”

“Unmöglich”, sagte Moritz noch einmal und schüttelte den Kopf. “Ist es das, was Sie mit Nebenwirkungen gemeint haben? Das Sie Traum und Realität nicht mehr voneinander unterscheiden können?”

Ludger musste lachen. “Ich weiß genau, wann ich Träume. Ein Traum kontrollieren heißt nicht, dass er allen Eigensinn verliert. Ich weiß, dass es nicht die Realität ist, weil er sich sofort wieder verselbstständigt, wenn ich ihn nicht immer wieder aufs Neue unterwerfe. Dieses gelbe Urzeitmonster habe ich mir auch nicht ausgedacht, es war einfach da, als ich, sagen wir, grade abgelenkt war.”

“Hm”, machte Moritz und die beiden Männer schwiegen eine ungemütliche Weile. Ludger hatte seiner Geschichte nichts mehr hinzuzufügen und der Rest des Jobs war wirklich so simpel, wie Moritz behauptet hatte. Er setzte einen Kaffee auf, den die beiden Männer in aller Stille auftranken. Als Ludger sah, wie spät es war, entschied er, den zweiten Arbeitstag des Neulings nicht überzustrapazieren. Er stand auf und begleitete Moritz nach draußen. Der junge Mann bedankte sich knapp für die Einführung und versicherte, das Büro ordentlich zu halten und seine Aufgaben gewissenhaft zu erfüllen. Den Dinosaurier erwähnte er nicht noch einmal.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, trottete Ludger durch das riesige Lager, wich den umher fahrenden und wuselnden Lageristen aus und betrat schließlich ein letztes Mal sein altes – oder besser Moritz neues – Büro. Er hatte die meisten seiner Sachen bereits ausgeräumt. Trotzdem hatte er seinen großen Rucksack mitgeschleppt. Er nahm den gelben Dinosaurier vom Schreibtisch, machte einen Schritt zum Regal und hob den letzten Karton herunter. Er sah hinein.

Von etwas Staub bedeckt lag dort unter anderem die eingeschweißte CD, die ihm im afrikanischen Dschungel ein frecher Affenkönig überreicht hatte. Er sah das moderne Autoradio, um das er sich im Schloss mit dem schwarzen Ritter duellieren musste. Das Stickerheft, dass bei Albert Einstein auf der Kommode gelegen hatte, als er ihn beim Pokern schlug. Sogar der blaue Sport-BH lag noch darin, den er Anita Ekberg auf dem Mond mit – naja, eine wilde Geschichte. Hätte er Moritz von dem Karton erzählen sollen? Ludger warf den gelben Dinosaurier zu den anderen Sachen in die Kiste und entleerte sie dann in seinem Rucksack. Es war wie ein endgültiger Löschvorgang, obwohl keiner der Gegenstände im System je verzeichnet gewesen war.

Bevor er das Büro verließ, stellte er den leeren Karton zurück in das Regal. Dort stand er gut, dort hatte er vielleicht auch in Zukunft seinen Platz, wenn Moritz sich doch an seine Träume erinnern würde.

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