Malte Klingenhäger

Verdunklungsgefahr

Ich habe mich wieder mitschleppen lassen. Zu einer Lesung. Als ob ich hier gebraucht würde. Der Raum ist proppenvoll und die Leute nicht einmal wegen mir hier, sondern wegen Klaus, der liest. Dabei geht es mir viel zu gut, um nicht gefeiert zu werden und die Zutaten für die entsprechende Party sind eigentlich vorhanden: Die Luft in diesem Raum riecht bereits jetzt wie eine Szenedisko um 6 Uhr morgens und die Leute winden sich in ihren Sitzen, wollen sich eigentlich bewegen. Aber wir schweigen und lauschen und versuchen bei Bewusstsein zu bleiben.

Ugh.

Malte Klingenhäger Kurzgeschichte: VerdunklungsgefahrIch entscheide mich, schnell abzuhauen, sobald Klaus seine Performance hinter sich gebracht hat. Dann hat sich alles gelohnt, sogar das schicke neue Hemd, das ich trage und das sich unter meinen Achseln grade bedrohlich verdunkelt. Blöde Sache, das mit dem Hemd. Ich hielt mich schon vor dem Spiegel für umwerfend. Habe dem Strom an Frauen, der sich mir in der Pause so erwartungsvoll blickend entgegendrängte, mehrmals verzweifelt zugerufen, vergeben zu sein. Hielt mich schon für das, was meine Kollegen daheim scherzhaft einen echten Bitchmagneten nennen, bis ich feststellen musste, dass neben mir die einzig freie Nische an der Theke war, an der man noch bestellen konnte. Wenigstens mussten sich alle einmal an mir vorbeischieben. Sogar die eine, die ich als eine der Juroren des Schreibwettbewerbs erkannt habe, bei dem ich mitmache. Ihr Poppes streifte mein Knie. Vielleicht gibt das Pluspunkte.

Ugh.

Das war einer, so ein Kanarienvogelgedanke – von mir selbst benannt nach den Viechern, die man früher mit in die Bergwerke genommen hat – als Frühwarnsystem für schlechte Luft, Kohlenmonoxid, späte Frühlingszwiebeln in der Kantine. Hängt der Vogel von der Stange, wird dem Kumpel Angst und Bange, oder so . Jedenfalls sind das die Gedanken, bei denen ich weiß, dass ich dringend Wasser, Essen, Schlaf oder Luft brauche. Hier fehlt wahrscheinlich die Luft. All die Leute, die gar nicht wegen mir hier sind, atmen sie mir weg. Dabei sollte Luft ein Supergrundrecht sein – ich und der Innenminister denken da ähnlich, wenn sie dünn wird.

Ugh.

Das war schon wieder einer. Aber weg kann ich nicht. Klaus hat noch nicht zuende gelesen. Viel bekomme ich eh nicht mehr mit, aber ich bilde mir ein, er brauche mein Lächeln. Das Lächeln, das er gar nicht sieht, weil ihm der Scheinwerfer die Schatten seines Textes ins Gesicht brennt. Der Scheinwerfer, der den Raum mit dem Publikum um die Wette heizt. Mal schauen, ob wir sein ganzes Hemd verdunkeln können, höre ich ihn flüstern. Auf meiner Brust entsteht bereits ein Fleck, der verdächtig an einen Sylt-Aufkleber erinnert. Raus muss ich, es sind zu viele Leute im Raum, selbst die Worte, die Klaus ins Mikrophon haucht, scheinen den Sauerstoffgehalt der Luft zu mindern. Verzweifelt stelle ich mir vor, ich könne das Publikum wegdenken. Immer wenn ich meine Augen zudrücke, hoffe ich in dieser kurzen, dunklen Sekunde, dass der Raum leer ist, wenn ich sie wieder öffne. Aber die Leute bleiben, nur die Luft nimmt ab und meine Atemzüge werden genau wie die dunklen Sekunden immer länger und länger. Ob ich mir einen Luftvorrat anatmen kann? frage ich mich und atme schneller, blinzle häufiger, spüre, dass es funktioniert und auf einmal […] ist der Raum leer. Die Stühle sind leer, die Lautsprecher rauschen leise. Die Luft ist noch nicht zurückgekehrt, dafür herrscht friedliche Stille.

Ugh.

Sie stehen um mich herum, rufen zu mir herab, atmen aufgeregt weiter und lassen mich eine Ewigkeit auf dem Boden liegen, wo die Luft nun wirklich am Schlechtesten ist. Dann beugt sich eine junge Brünette mit kurzen Haaren zu mir herab und fasst mir fürsorglich an die Stirn. Das Hemd wirkt also doch, denke ich, als sie mich vorsichtig aus dem Raum hinaus auf die Straße tragen.

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  1. […] echten Kurzgeschichte (Nicht russisch genug) und der letzten, die für die kultextur schrieb (Verdunklungsgefahr), habe ich auch einen literarischen Essay ausprobiert, der tatsächlich funktioniert hat. Und weil […]

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