Dierk Seidel
Über das Schreiben
Es gibt viele Bücher, die beschreiben, wie das Schreiben funktioniert. Das Beste, obwohl ich nur ca. zehn Bücher über das Schreiben gelesen habe, ist meines Erachtens Stephen Kings „Das Leben und das Schreiben“. Auf der Homepage des Schriftstellers Andreas Eschbach findet man ebenfalls viele und definitiv wertvolle Tipps. Vielleicht sollte ich sie mehr beherzigen.
Literarisches Schreiben ist irgendein hoher Prozentsatz Handwerk und ein kleiner Prozentsatz Talent. Aber das würde ich nicht antworten, wenn man mich auf einer Feier oder nach einer Lesung fragen würde, wie das bei mir läuft, das mit den Ideen und dem Schreibprozess. Meistens antworte ich erstmal ausweichend, dann drehe ich mich im Kreis und am Ende sage ich vielleicht Folgendes:
Es ist immer unterschiedlich und ich kann das nicht pauschal sagen. Manchmal wache ich morgens mit einer Idee auf. Die Worte springen zwar noch etwas durcheinander, aber ich weiß, wenn ich Zeit habe, sie zu Papier zu bringen, dann werden sie einfach so sprudeln. Ich sitze kurz danach zum Beispiel im Zug zur Arbeit und lasse die ersten zwei Absätze im Kopf durchlaufen. Vor Unterrichtsbeginn springe ich an den einen PC im Lehrerzimmer und tippe sie in den zehn Minuten vor der ersten Stunde runter. Festhalten, was da ist. So etwas ist der schönste Weg. Im Idealfall bin ich, wenn mich so eine Idee erreicht, zuhause und kann den Text in einem Zug beenden. Diese Texte muss ich, abgesehen von Tippfehlern, selten überarbeiten. Man kann natürlich alles immer und immer wieder überarbeiten. Aber dazu komme ich in einem späteren Absatz dezidierter.
Neben diesen Ideen und Worten, die einfach so da sind, gibt es noch Thementexte. Ich bekomme ein Thema vorgegeben oder gebe mir selbst ein Thema vor und dann versuche ich, etwas daraus zu machen. Ich schaue im Netz nach Themenideen oder suche mir in Büchern über kreatives Schreiben Anlässe heraus, ich betrachte die Welt, frage meine Frau, erhalte Vorschläge. Themenvorschläge von Freunden und Bekannten sind manchmal schwierig. Wenn jemand weiß, dass ich schreibe und es irgendeine witzige Situation gibt, kommt gerne der Satz: „Da kannst du doch mal eine Geschichte drüber schreiben.“ Aber das geht selten, weil ich die Geschichte in der Situation nicht erkenne.
Warum gehe ich auf Themensuche? Könnte ich es nicht gleich lassen, wenn ich keine Idee habe?
Die Gründe sind unterschiedlich, manchmal dient das Schreiben dazu, um die Kreativität voranzutreiben, oder, wenn ich nicht weiterweiß, mir neue Impulse zu setzen. Auch treibt mich zeitweise das Gefühl an, dass ich schreiben muss, weil ich weiß, dass es mir guttun wird, und manchmal denke ich, ich habe etwas zu sagen, weiß aber noch nicht was. Hinzu kommt, dass ich bei vielen Texten auch ein wenig an meinem Handwerk arbeite und Dinge ausprobiere, die ich noch nicht gemacht habe.
Habe ich eine Idee oder ein Thema, schreibe ich los, und auf dem Papier oder in der Notizapp meines Smartphones entsteht etwas, das mich zumindest in seinem Anfang selbst überrascht. Mein Prinzip ist häufig, dass ich mich einem Thema durch die Hintertür nähere. Ich bekam zum Beispiel vor ein paar Jahren für eine Lesung zum 200. Geburtstag von Karl Marx eben das Thema „Karl Marx“ und ich fragte mich, was ich mit Karl Marx zu tun habe. Ich erinnerte mich, wie ich in der Jugend eine Marx-Biografie bekommen hatte, und dann passierte eben das, was in der Geschichte „Wie ich Karl Marx bekam“ nachzulesen ist.
Darüber hinaus helfen mir Reihen, wie zum Beispiel die Geschichtenreihe „Geschichten von oben“ oder Konzertberichte. Da hat man schon mal ein Themenfeld, kann die Geschichten immer weiter miteinander verknüpfen und neue Geschichten entstehen lassen. Und wenn gar nichts geht, dann wühle ich in der Jugend. Da gibt’s immer Geschichten, die ich noch nicht erzählt habe.
Eine andere Art, zu schreiben, ist das Schreiben von größeren Projekten, wie dem Roman, an dem ich seit neun Jahren arbeite, oder einem Kinderbuchprojekt. Beide fingen mit einer ersten Kurzgeschichte an und die Charaktere machten mir so viel Freude, dass ich daran weiterschreiben musste. Im Fall des Romanprojekts spielt die Arbeit um das eigentliche Schreiben herum eine größere Rolle: Ich erstelle Notizdateien mit Charakterbeschreibungen, Zeitlinien, Dokumente mit Mindmaps für Ideen und diverse andere Dokumente. Komme ich dann zum eigentlichen Weiterschreiben, „muss“ ich mich immer wieder aufraffen. Natürlich will ich es auch, ich habe ja eine Idee, einen Weg im Kopf, und doch hadere ich immer wieder, es ist ein innerer Kampf. Die Figuren sollen in die richtige Richtung gehen. Und gleichzeitig soll die Geschichte voran gehen. Und da ist der Knackpunkt. Zeitweise habe ich den Weg des Kapitels im Kopf und will ihn dann schneller gehen, als ich sollte. Also heißt es später überarbeiten. Und dann lauert immer die Frage im Hinterkopf, ob der Plot, den man als gut erachtet, es wirklich ist. Zweifel. Schreibblockade. Pause.
Das Überarbeiten von Geschichten ist eine gleichermaßen spannende wie unbefriedigende Aufgabe. Bei vielen Texten, gerade bei den kürzeren, brauche ich einen Abschluss, den ich zum Beispiel mit dem Hochladen hier auf der Seite oder beim Vortragen auf einer Lesung erreiche. In diesem Fall besteht das Überarbeiten nur aus der Verbesserung von sprachlichen Fehlern oder unklaren Sätzen. In einigen Texten, die ich später wieder betrachte und schon lange aus den Augen verloren hatte, sehe ich viele Dinge, die ich heute anders und besser machen würde. Aber das funktioniert bei mir dann nicht.
Obwohl es das komplette Gegenteil ist, muss ich an eine Szene aus dem Buch „Herr Lehmann“ von Sven Regener denken. Verkürzt gesagt, zerstört der beste Freund vom Hauptprotagonisten Frank Lehmann, Karl, seine Metallskulptur für eine Ausstellung und kommentiert dies mit dem Wort „Dekonstruktion“. Frank Lehmann ist schockiert und will seinen Freund erstmal aus der Werkstatt in seine Wohnung nehmen. Es entsteht folgender Dialog:
”Da kann man was draus machen.“
”Karl, du hast das alles kaputtgemacht, jetzt laß es auch so“
(Sven Regener, Herr Lehmann. Eichborn AG, 2001, S. 263.)
In meinen Gedanken im Hinblick auf das Schreiben geht mir das ebenfalls so, da kann ich noch was draus machen, denke ich, aber ich habe es hochgeladen und nun lass ich es auch so. Eine völlig andere Situation als bei „Herr Lehmann“ und doch fühlt es sich für mich sehr passend an. Die gesamte Szene im Buch hat eine viel größere Bedeutung, als ich sie hier andeute, ich kann das Buch nur empfehlen, um selbst in das Universum von Herrn Lehmann und Karl einzutauchen.
Eine andere Art des Überarbeitens ist, wenn ich beispielsweise bei einer Lesung feststelle, dass ich ganz unbewusst Worte während des Lesens austausche, den Lesefluss instinktiv verbessere, dann werden diese Worte, auch bei schon hochgeladenen Geschichten, ganz heimlich ausgetauscht.
Beim Überarbeiten von meinen größeren Projekten ist es nochmal etwas anderes. Der Roman liegt häufig so lange brach, dass ich erstmal von vorne beginne und so viel schon in den ersten vier, fünf Kapiteln überarbeite, Dinge streiche und ändere, dass ich gar nicht bis zum letzten geschriebenen Kapitel komme, um weiterzuschreiben. Ein bitteres Los ist dieses Überarbeiten. Bei meinen Kindergeschichten hat ein guter Freund die Geschichten lektoriert und mir wertvolle Tipps mitgegeben. Der Prozess des Überarbeitens, der dann entsteht, ist viel intensiver, als wenn man immer nur mit seinem eigenen Kritiker arbeitet. Die Überarbeitung dieses Projekts zeigt mir auch, dass in vielen Geschichten noch mehr steckt, als ich beim ersten Schreiben denke, und lässt mich dann doch ab und zu meine Vorgehensweise bei den kürzeren Texten (ich habe es hochgeladen und nun lass ich es auch so) in Frage stellen. Aber wirklich nur manchmal. Bei meinem Kinderbuchprojekt freue mich schon auf den Tag, an dem ich mich durch die ganzen Anmerkungen durchgearbeitet habe. Denn ich bin mir sicher, dass die Geschichten dann nochmal um einiges runder sind. Das Überarbeiten von Geschichten hat also durchaus seine Berechtigung.
Wichtig ist mir, dass ich bei allen Texten, die ich schreibe, zu erkennen bin, sie sollen meine Handschrift haben, so unterschiedlich die Texte auch sein mögen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich das Romanprojekt, das seit 2014 im Prozess ist, immer wieder von vorne angehe. Mein Schreiben ist im Wandel, so wie ich.