Dierk Seidel
Die Neujahrstrilogie
1. Ben Galo
Ben Galo zündete sich eine Zigarette an. Plötzlich knallte es wahnsinnig laut und eine kleine Druckwelle erschütterte ihn. Er blickte sich um. Um ihn herum war kein Rauch, nichts dergleichen. Ungefähr 70 Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, sah er ein paar Jugendliche mit Böllern. Ein Mann, Anfang 70, lief an ihm vorbei und raunte:
„Scheiß Böller.“
Ben Galo dachte, nicht die Böller sind das Problem, sondern die Menschen.
„Aber auch Menschen stellen das Zeug her“, flüsterte der Mann.
Hatte er mich gehört?
„Das widerspricht sich doch nicht mit meiner Aussage“, erwiderte Ben Galo. Da war der Mann aber schon verschwunden.
Ben Galos Bus kam und er sprang schnell hinein. Hier fühlte er sich, in diesen frühen Abendstunden der lautesten Nacht des Jahres, sicher. In der Silvesternacht musste Ben Galo immer besonders viel Spott aufgrund seines Namens ertragen. Es kamen dann Sprüche a la „Komm, wir zünden Ben Galo an. Das gibt ein tolles Feuerwerk“ oder „beim nächsten Fußballspiel nehmen wir Ben Galo mit, ein Freund mit Leuchtgarantie“. Ben Galo fand das gar nicht witzig und er sprach das auch immer mal wieder an. Er sagte:
„Freunde, ich finde das nicht witzig.“
Oder er sagte:
„Lasst doch mal gut sein.“
Diesmal hatten seine Freunde eine kleine Auswahl an Feuerwerkskörpern dabei. Auch Bengalos hatten sie bei einem großen Onlineversandhändler bestellt. Um 0 Uhr ging es raus. Alles sah schön aus, die Raketen waren schön bunt, die kleinen Knaller knallig und die Bengalos sprühten nur heiße Luft. Ben Galo grinste in sich hinein, ehe er sagte:
„Vielleicht könnt ihr einfach nicht mit Bengalos umgehen.“
Dann holte er aus seiner Tasche ein Bengalo heraus, zündete es an, lief, umgeben von einer roten Rauchwolke, los und verschwand in der ersten Nacht des Jahres.
„Feuerwerkskörper sind ja ohnehin schlecht für die Umwelt“, sagte einer der Übrigen. Und ein anderer sagte:
„Und die Tiere können sowas ja auch nicht ab.“
Und der erste schloss:
„Vielleicht sollten wir nächstes Jahr gar nichts machen. Wir wollten das ja eigentlich noch nie so richtig.“
Und so gingen sie nach Hause und warteten auf Ben Galo, um auf das neue Jahr anzustoßen.
2. Brötchenmesser
Peter Worköster saß am Küchentisch und starrte vor sich hin. Drei zerkratzte Brotbretter (wenn man mal eines geschenkt bekommt, hält das für die Ewigkeit, egal wie zerkratzt, es ist) ein Teller mit Salami und Schinken, ein weiterer Teller mit unterschiedlichen Käsesorten, ein Teller mit Paprikastreifen und zwei Gläser, eines mit Aprikosenmarmelade und eines mit Nuss-Nougat-Creme, standen auf dem Tisch. Doch seine Aufmerksamkeit galt nicht diesen Dingen, sondern dem Brotkorb, der dazwischen thronte. Peter Worköster hatte kurz zuvor die gekauften Brötchen (6!) in den Brotkorb geschüttet und er war entsetzt. Wie sollte er das nur seinen zwei Gästen erklären, die sich auf ein schönes nahrhaftes Frühstück freuten. Er dachte nach. Ich könnte mich bei der Bäckereifiliale beschweren, aber die können sicher nichts dafür, also muss ich mich direkt an die nächsthöhere Ebene wenden. Er hörte eine Tür schlagen und Schritte auf der Treppe nach unten. Peter Worköster blickte hoch. Andrea und Helge Finkvogel, ein befreundetes Paar aus seiner Studienzeit, kamen die Treppe hinunter.
„Guten Morgen, Peter!“, sagte Andrea.
„Und auch jetzt nach dem Schlafen nochmals ein gutes neues Jahr“, ergänzte Helge.
„Morgen“, murmelte Peter.
„Alles in Ordnung?“, fragte Helge.
„Nicht wirklich“, Peter zeigte auf die Brötchen, „alle unterschiedlich groß, das geht doch nicht.“
Andrea lachte.
„Das sind doch nur Nuancen.“
„Das sagst du so leicht. Für mich sind das riesige Unterschiede. Da muss man doch was tun.“
„Wir könnten sie ganz genau ausmessen und dann schauen, ob sie zu sehr voneinander abweichen“, sagte Helge, „hast du einen Brötchenmesser?“
„Ein Brötchenmesser? Was sollen wir denn damit?“
„Kein Messer, ein Messgerät mit dem man Brötchen messen kann.“
„Neee. So etwas habe ich nicht. Gibt es sowas? Da habe ich ja noch nie von gehört.“
„Siehst du, das gibt es auch nicht, so etwas ist Quatsch, und nun lass uns frühstücken. Ich habe Hunger“, mischte sich Andrea ein und setzte sich an den Tisch.
Peter Worköster blickte ratlos zu den Brötchen, dann zu Andrea und zuletzt drehte er sich Richtung Küchenzeile, an der Helge gerade einen Messbecher mit einer Schere bearbeitete.
3. Der erste Tag des Jahres
Der erste Tag des Jahres begann nass. Das war nichts Besonderes. Es regnete seit Tagen und, das durfte man nicht vergessen, er duschte jeden Morgen direkt nach dem Aufwachen, dies machte er sogar noch vor dem Gang zur Toilette, das würden viele als ekelig empfinden, sagte mal ein Freund zu ihm, und weiter führte er aus, dass es doch viel schöner wäre, sein Geschäft zu verrichten und im Anschluss alles sauber zu machen, eben unter der Dusche, doch er sah das anders, denn die Dusche war das, was ihn überhaupt erst einmal in Fahrt brachte, wie sollte er sich auch den Hintern abwischen, wenn er überhaupt nicht wach wäre, man schließt ja auch keine Verträge im Schlaf ab, so etwas machte man einfach nicht. Unter der Dusche dachte er nicht nach, es passierte einfach alles in seiner gewohnten Rhythmik, Duschbrause in die Hand nehmen, sich nass machen, die Brause zwischen die Beine klemmen, einschäumen, abduschen, fertig. Mit dem Schritt danach begann der Tag für ihn dann so richtig. Er setzte sich auf die Toilette und dachte nach:
Es regnet. Ziehe ich dann meine Regenjacke an, wenn ich hinausgehe, oder setze ich darauf, dass die Bahn schnell kommt. Kann der Regen nicht auch mal aufhören? Es regnet seit Tagen. Gott pisst auf die Welt. Wie würde es wohl aussehen, wenn Gott auf die Welt scheißen würde? Dann würde ich auf jeden Fall nochmal duschen, wenn ich zu dem Zeitpunkt draußen wäre.
Er war mit allem fertig, stand auf, wusch sich die Hände und lief nackt durchs Haus. Für einen Januarmorgen war es warm, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass er nachts vergessen hatte, die Heizung runterzudrehen. Er blieb etwas unschlüssig vor dem großen Spiegel neben dem Klavier im Wohnzimmer stehen und betrachtete sich von oben bis unten. Dann räumte er auf. Dabei bemühte er sich, leise zu sein, alle anderen, drei hier im Wohnzimmer, fünf im restlichen Haus verteilt, schliefen noch tief und fest und das konnte auch ruhig so bleiben. Er genoss es, nackt aufzuräumen, das machte er sonst ja auch und es hätte ihn gestört, wenn es am ersten Tag des Jahres nicht so wäre. Als er fertig war, zog er sich einen Mantel über, lief halbnackt und barfuß zum Müllcontainer und schmiss die Überreste des letzten Jahres weg. Alles beginnt neu und doch bleibt so vieles gleich. Er ging zurück ins Haus, hoch in sein Schlafzimmer, und zog sich einen Anzug an, suchte in seiner Playlist die vier Jahreszeiten von Vivaldi, wählte in seinem Smartphone „Verbindung zur Soundbar herstellen“ an und der Frühling begann. Die Freunde und Freundinnen, die überall verteilt lagen, wachten auf, zogen sich an und tauschten sich aus.
„Der erste Tag des Jahres und es regnet natürlich.“
„Vielleicht solltest du mal duschen.“
„Stinke ich?“
„Nein, so gar nicht.“
„Wer hat eigentlich die Musik so laut gemacht?“
„Klassik, und dann auch noch Händel.“
„Das ist Vivaldi.“
„Mir doch egal.“
Der Gastgeber, nun im Anzug, kam hinunter und sagte:
„Guten Morgen, das ist der erste Tag des Jahres 2024. Wir können so viel daraus machen, lasst uns beginnen.“
„Es regnet“, erwiderte einer.
„Ja, genau. Genau das meine ich.“