Dierk Seidel
Something in the way
Ich hatte lange suchen müssen, bis ich die Wohnung in der Grünstraße Nr. 7 fand. Man musste erst durch einen Hinterhof, dann in den zweiten Stock und sich zwischen zwei Türen entscheiden. Ich entschied mich für links. Hier sollte sie also jetzt wohnen. Lea. In der Jugendschutzstelle unserer Stadt durfte man mir offiziell nichts sagen, als ich gefragt hatte, wo sie sei. „Auch wenn du ihr Freund warst, dürfen wir ihre Adresse nicht rausgeben.“ Vergangenheit. Ich war ihr Freund, das traf. Ich fuhr enttäuscht nach Hause.
Lea erzählte immer viele Geschichten und man wusste nie so genau, wie wahr sie waren. Und so entstanden schnell Gerüchte. Demnach war sie an einem Wochenende zu lange unterwegs. Ihre Eltern brachten sie daraufhin zur Jugendschutzstelle. Da sei sie abgehauen und ab dann galt sie angeblich als vermisst. Aber das glaubte ich nicht. Bei den Vermisstenmeldungen der Polizei war sie nicht dabei. Auf Anrufe und Nachrichten reagierte sie aber auch nicht und ihre Eltern wollten mir nichts sagen. Daher hatte ich bei der Jugendschutzstelle unserer Stadt nachgefragt.
Abends wollte meine Mutter Wäsche waschen, ich leerte meine Taschen und fand einen Zettel mit einer Adresse in Düsseldorf. Die in der Schutzstelle mussten ihn mir zugesteckt haben. An einem Samstag fuhr ich mit dem Zug hin. In Düsseldorf und in dem Haus angekommen, entschied ich mich für die linke Tür und klingelte. Eine schlanke Frau mit grauer Stoffhose und einem beigen Hemd und kahlrasierten Kopf öffnete die Tür. Sie lächelte.
„Du musst Paul sein“, sagte sie zu mir und ich nickte.
„Woher wissen Sie?“
Sie zwinkerte mir zu und ich hatte keine Ahnung, was sie mir sagen wollte.
„Komm rein.“
Sie führte mich in eine schöne Wohnung. Nicht zu modern, aber auch nicht oll. So stelle ich mir Wohnungen von Lehrern vor. Aber was weiß ich schon, bin ja erst fünfzehn und meine Eltern sind keine Lehrer. Die Küche und das Wohnzimmer gingen ineinander über. Auf einer Holzbank an einem großen Tisch saß ein vollbärtiger Mann. Er sah freundlich aus. Ich konnte nur schwer sagen, wie alt die beiden waren. Vielleicht so um die 40?
„Du musst Paul sein“, sagte er.
„Wieso wisst ihr alle von mir und was soll das eigentlich hier?“
„Wir sind Ronja und Eric. Lea wohnt zurzeit bei uns. Sie hat uns von dir erzählt.“
„Was hat sie über mich erzählt?“
„Nur Gutes. Wirklich nur Gutes. Du bist nicht der Grund, weswegen sie weg ist. Mach dir da keinen Kopf.“
Ich war etwas beruhigt.
„Aber was ist mit ihr? Wie geht’s ihr? Kann ich sie sehen?“
„Es geht ihr noch nicht wieder gut. Wir glauben, es ist besser, ihr seht euch nicht. Sie möchte es auch nicht; im Moment.“
„Ich verstehe das nicht. Ich bin ihr bester Freund. Dachte ich zumindest bis heute.“
„Geh jetzt“, sagte Eric.
Er stand auf und geleitete mich zur Tür. An der Tür wurde er wieder etwas sanfter und säuselte.
„Mach dir keine Sorgen. Wir kümmern uns gut um Lea. Sie wird schon wieder werden, aber sie musste aus ihrem Alltag raus. Das ging so nicht mehr weiter.“
Ich verstand es nicht, aber nickte.“
„Gib mir mal deine Nummer. Wir schreiben dir, wenn sich was ändert.“
Danach ging ich und fuhr sichtlich verwirrt nach Hause.
Ein paar Wochen später, die Sommerferien hatten gerade begonnen, schrieb mir Ronja eine Nachricht. Lea würde dich gerne sehen. Ich fuhr am gleichen Tag hin. Klingelte an der linken Tür und Ronja öffnete.
„Hallo Paul, schön dich zu sehen, komm rein. Ich muss jetzt zur Arbeit. Aber Eric ist auch da.“
Sie verschwand und ich ging zu Eric, der wieder auf der Bank saß. Er drehte sich eine Zigarette.
„Soll man ja eigentlich nicht machen“, sagte er.
„Was?“
„Na, Rauchen. Rauchst du?“
„Nur selten.“
„Seit Lea weg ist, vermutlich weniger.“
Er lachte.
„Kann schon sein“, antwortete ich.
„Möchtest du Kaffee?“
„Ja, mit Milch bitte.“
Er stand auf, ging zur Küchenzeile und stellte mir dann einen Kaffee mit viel Milch hin und ein Glas mit Milch. Lea trank immer nur Milch.
„Lea kommt gleich hoch. Ich bin hier nebenan im Arbeitszimmer, falls was ist.“
Erst da fiel mir auf, dass die Wohnung zwei Etagen hatte. Und wir waren oben.
„Toilette ist unten die erste Tür, falls du mal musst.“
Dann ging er nach nebenan und lehnte die Tür an.
Lea und ich hatten uns noch nie geküsst. Wir waren einfach nur beste Freunde. Aber ich bekam Panik und hatte nur noch einen Gedanken. Zähneputzen. Wie? Ich rannte die Treppe runter ins Bad. Drei Zahnbürsten. Ich wählte eine aus, von der ich glaubte, die müsste Leas sein. Irgendwie beruhigt lief ich nach einiger Zeit völlig verschwitzt, aber mit geputzten Zähnen, die Treppe hoch. Im Wohnzimmer stand Lea an einem Mikrofon und hatte eine Gitarre umhängen. Sie sah mich oder auch nicht. Ihre Haare nicht mehr blond, sondern schwarz gefärbt. Sie schloss die Augen und spielte und sang „Something in the way“ von Nirvana. Sie liebte dieses Lied. Sie hatte es mir schon oft vorgespielt. Sie spiele es aber nur, wenn es ihr gut gehe, hatte sie betont. Wenn es einem schlecht geht, sollte man kein Nirvana hören, das sagte sie immer wieder. Ich kannte Nirvana nur von den Songs, die sie mir vorgespielt hatte. Sie machte beim Spielen kein einziges Mal die Augen auf. Mir rannen Tränen die Wange hinunter. Sie spielte so schön. Und ich war so glücklich zu sehen, dass es ihr gut ging.
Nach dem Lied legte sie die Gitarre weg und umarmte mich. Wir tranken Kaffee und Milch und redeten.
„Es geht mir hier besser als zuhause. Ronja und Eric sind gute Menschen und Yannick ist auch okay.“
„Yannick?“
„Ja, der Sohn von den beiden. Ist gerade bei nem Kumpel.“
„Dann müssten da im Bad doch vier Zahnbürsten sein, oder?“
„Nee. Total cool, ich habe mein eigenes Bad ganz hinten. Da ist dann auch natürlich meine Zahnbürste. Warum?“
Ich verzog mein Gesicht und klärte sie auf.
Sie lachte laut und das Lachen steckte an.