Dierk Seidel

Oma und der Hund

Alles begann mit einem Hund. Meine Oma rief mich an einem Freitagabend an, um mich zu fragen, ob ich sie unterstützen könnte. Ein Hund sei da und ginge nicht mehr weg. Am nächsten Morgen packte ich schon sehr früh die wenigen Sachen, die ich für einen Kurztrip auf die Insel Borkum benötigte. Ich ging zum Bahnhof und lieh mir ein Stadtteilauto aus. Um diese Zeit kommen keine Züge rechtzeitig zum Fähranleger. Warum fährt heute, am Karnevalswochenende, nur eine einzige Fähre, und dann schon um 8 Uhr, fragte ich mich. Als ich die A31 erreicht hatte, ging es fast nur noch geradeaus. In Emden parkte ich mein Auto auf Mickys Inselparkplatz und lief zum Fährhaus. Es war wenig los und der Morgennebel steckte allen, die mit mir ankamen, sichtlich in den Knochen. Ich gähnte, löste dann mein Fährticket und betrat die MS Ostfriesland. Meine Sporttasche stellte ich in eines der Ablagefächer und holte mir einen Kaffee. Der Kapitän begrüßte die Reisenden durch seine obligatorische Durchsage und ich musste laut lachen, als er sagte: „Dies ist ein Nichtraucherschiff, die Raucherbereiche finden Sie oben an Deck.“ Genauso seltsam wie die gelben Raucherrechtecke an Bahnhöfen. Gegen neun Uhr ging ich ans Oberdeck. Die Bänke waren zu feucht, um sich zu setzen. An der Reling stand ein Mann, ungefähr in meinem Alter, schulterlanges braunes Haar und blickte Richtung Eemshaven. Er kam mir bekannt vor.

„Moin“, sagte ich.

„Moin“, sagte er kaum hörbar.

„Arbeit oder Urlaub?“, fragte ich.

„Sowohl als auch. Klassenarbeiten korrigieren mit schöner Atmosphäre. Und Sie?“

„Meine Oma ist auf ´nen Hund gekommen und weiß nicht, wie sie ihn wieder loswerden soll.“

„Okay“, sagte er und grinste. Er stellte es nicht in Frage. Ob er weiter drüber nachdachte?

„Kommen Sie auch aus Leer?“, fragte ich ihn.

„Früher mal. Heute komme ich aus Münster.“

„Ah, auch mit dem Auto gekommen?“

„Nein, ich fahre nur selten Auto. Wird kalt. Ich geh mal wieder runter.“

Er hielt mir die Hand hin und ich erwiderte. Ein Händeschüttler also. Er schaute dabei leicht an mir vorbei, ehe er ging. Ich blieb bis zum Anlegen an Deck und überlegte, woher ich ihn kennen könnte. Jugendzentrum? Berufsschule? Fußballverein? Vom Schiff ging es auf die Inselbahn. Ich suchte alles ab, sah ihn aber nicht mehr. An der ersten Haltestelle am Jakob-van-Dyken-Weg entdeckte ich ihn. Nur wenige stiegen hier aus und er war dabei. Dann fiel es mir ein: Deutschkurs in der Oberstufe. Aber auf seinen Namen kam ich nicht. Meine Fahrt endete in der Stadt und ich ging die paar hundert Meter zum Haus meiner Oma. Sie war nicht zuhause. Ich klopfte bei ihrer Nachbarin.

„Schön, dass du mal wieder da bist. Wenn sie nicht zuhause ist, geht sie häufig zur Bank an der Aussichtsstelle, wenn du an der Dünenklause rechts Richtung Sturmeck läufst.“

Sie gab mir ihren Ersatzschlüssel für das Haus meiner Oma und ich brachte meine Tasche ins Gästezimmer. Es war alles ordentlich wie immer, nur waren ein paar Dinge vertauscht. Eine Pfanne stand auf der Heizung in der Küche, die Zahnbürste lag auf dem Küchentisch.

Ich ging zur Strandpromenade und lief Richtung Aussichtsstelle. Dort saß Oma auf einer Bank und blickte aufs Meer. Rechts neben ihr saß ein Hund, dachte ich zuerst. Als ich näherkam, sah ich, es war ihr Handwagen.

„Oma“, sagte ich.

Sie blickte hoch und lächelte mich an.

„Bente, schön, dass du da bist. Setz dich.“

Ich setzte mich und wir umarmten uns. Es war alles wie immer.

„Oma, was ist mit einem Hund?“

„Später. Erzähl doch erstmal, wie war die Fahrt? Hast du wen getroffen?“

„Fahrt war gut. Wie immer. Aber da war ein Bekannter von früher. Glaube, ich kenne ihn aus der Oberstufe. Wir haben nicht viel geredet.“

„Dass ihr jungen Leute nicht mehr miteinander sprecht, ist mir ein Rätsel. Das war bestimmt der Dierk. Der kommt seit einigen Jahren öfter her. Ist Gesamtschullehrer. Manchmal reden wir bei Markant. Erzähl ich dir später mehr von.“

„Ja, richtig. Dierk. Dierk mit ie. Aber nun zu dir, Oma, wo ist der Hund?“

Meine Oma blickte wieder aufs Meer. Nach einer längeren Pause sagte sie:

„Seit du hier bist, ist er weg.“