Dierk Seidel
Der Restauranttester
1
Sein Akku war leer, das Fahrradlicht kaputt. Er hatte Hunger. Sein Plan, schnell nach Hause zu radeln, war missglückt. Er streifte durch die kleine Stadt am Meer, vorbei an seinem Lieblingsrestaurant. Es war voll. Er lief weiter und entdeckte in einer kleinen Gasse ein neues Lokal. Wenig besucht, kleine Karte, irgendwie gemütlich, dachte er. Er ging rein. Ein Schild wies ihn daraufhin, am Eingang zu warten. Er wartete, und dann wurde er an einen Tisch geführt. Ein Zweiertisch, ein Platz mit Blick in den Raum und einer mit Blick nach draußen. Er setzte sich intuitiv so, dass er den Raum überblicken konnte. Neben ihm saßen zwei befreundete Frauen Mitte 50, davor zwei Paare und am Ende des schmalen Raumes eine Standardfamilie. Mutter, Vater und zwei Kinder, wie er den Gesprächen entnehmen konnte. Die Bedienung war aufmerksam. Nahezu zu aufmerksam. Sein alkoholfreies Bier bekam er so schnell wie noch nie.
Während er aufs Essen wartete, trank er und starrte in die Luft. Er lauschte den Gesprächen möglichst unauffällig und betrachtete das Restaurant. Dabei dachte er, dass die anderen Menschen ihn für seltsam halten müssten. Allein, kein Smartphone und Blick in den Raum. Er war lange nicht mehr allein und erst recht nicht ohne Telefon in einem Restaurant gewesen. Er fühlte sich verloren.
Sein Essen kam vor dem des Pärchens, das vor ihm bestellt hatte. Es schmeckte großartig und er freute sich darüber, dass sein Licht kaputt gegangen war. Das andere Paar war gerade mit dem Essen fertig. Die Bedienung fragte: „Hat es Ihnen geschmeckt?“ „Sehr gut“, antwortete der Mann. Wenig später kam die Bedienung zu ihm: „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ „Sehr gut“, antwortete er. Oh, was war das für eine inkompetente Antwort, dachte er. Er gab am Ende reichlich Trinkgeld, nicht nur, aber auch, weil er sich beim Aufrunden verrechnet hatte.
Nächster Tag, Radtour im Regen. Er kehrte in ein großes, etwas abgelegenes Restaurant ein. Im Hauptraum blickte er sich um. Überall Vierer- und Sechsertische, nur mitten im Gang stand ein Zweiertisch. Er dachte, dass er doch allein keine großen Tische blockieren müsste. Sobald er an diesem seltsamen Tisch mitten im Raum saß, wurde er wieder übertrieben gut bedient. Er musste nie lange warten. Er hatte diesmal bewusst sein Smartphone zu Hause gelassen, aber ein Notizbuch mitgenommen. In den kurzen Wartezeiten hielt er seine Gedanken fest. Nach dem Essen zog es ihn schnell weiter. „War alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, fragte man ihn und er erwiderte: „Es war alles gut, alles bestens. Bis zum nächsten Mal.“ Als er das sagte, kam es ihm vor, als ginge ein Raunen durch das Restaurant.
Er ging. Drei weitere Tage, drei Restaurantbesuche – jedes Mal hatte er das Gefühl, er würde bevorzugt behandelt. Er erinnerte sich an den Spanienurlaub vor vielen Jahren. An einer belebten Promenade hatte es nur Vierertische gegeben und er hatte gefragt, ob etwas frei sei. Der Kellner hatte einen Moment gezögert, war dann aber überaus zuvorkommend gewesen. Er hatte einen Platz bekommen und war blitzschnell abgefertigt worden. Damals hatte er sich gefreut, er hatte nicht genießen wollen, nur essen. Heute verstand er: Je schneller er weggewesen war, umso eher hatten vierköpfige Gruppen essen und mehr Umsatz liefern können. Aber in diesen Tagen an der kleinen Stadt am Meer war es anders, niemand stresste ihn. Schade nur, dass sein Lieblingsrestaurant diese Woche immer ausgebucht war.
2
Peter Meier hatte ein Gerücht gehört. Ein Restauranttester solle in die kleine Stadt am Meer kommen. Er teilte es in der WhatsApp-Gruppe der sechs Gastronomen in der Stadt: „Achtung, Restauranttester! Diese Woche, kommt sicher allein, ist bekannt dafür, dass er kein Smartphone hat, sondern alles in ein Notizbuch schreibt.“
Alle bedankten sich und waren nervös. Als der Mann mit Regenjacke, zerzausten Haaren und Dreitagebart das kleine Restaurant betrat, war Marlene Müller sich noch unsicher, doch als er dann den Platz mit Blick ins Restaurant wählte, stand es für sie fest: Der Restauranttester ist da! Sie gab Meldung an die Küche und alle arbeiteten spitzenmäßig. Sie arbeiteten natürlich immer spitzenmäßig, aber in diesem Fall ein klein wenig besser. Er gab etwas seltsame Antworten, aber gab auch reichlich Trinkgeld. Das musste ein gutes Zeichen sein. Sie schrieb nach Feierabend in die WhatsApp-Gruppe: „Er war hier. Setzt sich mit Blick in den Raum. Etwas verpeilt, aber freundlich, hat bei mir nichts geschrieben, aber hatte auch kein Smartphone dabei.“ Alle bedankten sich.
Am nächsten Tag rechnete Rudi vom Gasthof etwas außerhalb der Stadt mit gar nichts. Gegen 18:30 Uhr betrat ein Mann das Restaurant. Der Mann blickte sich kurz um und setzte sich an den Zweiertisch mitten im Raum. Schon öfter hatte Rudi darüber nachgedacht, den Tisch wegzustellen, da setzt sich sowieso niemand dran, dachte er. Doch heute war es anders. „Der Restauranttester“, zischelte die gesamte Belegschaft. Als dieser dann auch noch ein Notizbuch herausholte, war der Verdacht bestätigt. Alle gaben alles. Am Ende sagte der Restauranttester: „Bis zum nächsten Mal.“ Ein Ritterschlag für das Restaurant. Nachdem der Mann gegangen war, jubelten alle und die anderen Gäste bekamen einen Nachtisch aufs Haus. „Er war hier“, schrieb Rudi abends in die WhatsApp-Gruppe. Bei Kristina, Horst und Anne lief es ähnlich ab. Und jedes Mal kam die Nachricht in die Gruppe. Nur von Peter kam diese Nachricht nicht. Und so wunderten die anderen sich.
Marlene: „Der kommt zu uns allen, aber nur zu dir nicht, Peter????“
Peter: „Ja, mein Gott, fünf Restaurants sind ja schon ganz schön viel.“
Horst: „Nee, mein Lieber, wenn der schon fünf von sechs Restaurants testet, dann kann er ja auch wohl das Letzte mitnehmen.“
Rudi: „Du hast uns ’nen Spion ins Haus geschickt, mal gucken, wie deine Konkurrenz so arbeitet, hast du dir bestimmt gedacht.“
Peter: „Ach, hör doch auf, dann hätte ich das ja wohl nicht vorher angekündigt.“
Anne: „Da hat er Recht. Lass uns einfach warten. So Bewertungen kommen ja immer zeitnah. Dann werden wir sehen.“
3
„Mama, wie schön, dass wir dich diese Woche zur Arbeit begleiten durften“; sagte Lotte. „Sechs Restaurants hintereinander machen wir auch nicht oft“, stimmte Andreas, der Mann von Restauranttesterin Lisa Olbricht mit ein. „Was wirst du schreiben, welches Restaurant hat dir am besten gefallen?“, fragte Lars, das andere Kind.
„Ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich finde es schon sehr seltsam, dass Einzelpersonen so dermaßen bevorzugt wurden. Erinnert ihr euch an diesen Mann, der auch jeden Abend da war? Der hat immer vor uns sein Essen bekommen. Nur im letzten Restaurant wurden alle gleich gut bedient und da war er nicht mehr da. Als wäre er eine Berühmtheit hier im Ort.“
„Stimmt schon, Mama“, sagte Lars, „aber der Nachtisch in Restaurant Nr. 2 war super.“
„Ja, auf jeden Fall“, stimmten alle zu.