Sarah Chiyad

 Die Entfernung zwischen zwei Türmen

Wann und wo diese Geschichte spielt, ist eigentlich nicht von Bedeutung. Selbst Jonathan interessiert sich wenig dafür. Seine Welt ist übersichtlich und geräumig. Auf 42 Stockwerken hält sie alles für ihn bereit, was er braucht. Und wenn ihm doch einmal etwas fehlt, dann richtet er sich an die Ohrpost. Gerade spielt sie ihm ein ruhiges Klavierstück zu seinem Mittagessen. Es gibt nur wenige Momente, in denen Jonathan über die Größe der ihm unbekannten Stadt erschrickt, wenn es ihn an eines der großen Fenster zieht und seine Augen über die Spitzen der Hochhäuser gleiten, die um ihn herum aus den Wolken sprießen.

Die Klaviermusik setzt aus und eine Frauenstimme mit einem blechernen Unterton erklingt aus einem Lautsprecher an der Küchentheke: «Der Darm ist das Zentrum unseres Körpers. Entspanntes Essen führt zu einem glücklichen Darm und einem gesunden Körper. Hat dir dein Essen geschmeckt, Jonathan?»

Jonathan tritt an die Küchentheke und drückt den roten Knopf, der neben dem Lautsprecher angebracht ist. «Ja, sehr gut.»

«Das freut mich, Jonathan. Denk an deinen Mix-Fix-Bananenshake – für die extra Portion Power am Arbeitsplatz.»

«Danke», antwortet er, dann nach kurzer Überlegung: «Haben wir noch Milch?»

«Einen Moment, Jonathan. Ja, wir haben noch einen halben Liter Syn-Milch. Ein neuer Liter ist für nächsten Montag bestellt.»

Er betätigt den Knopf ein weiteres Mal und nimmt Syn-Milch und Bananenpulver aus dem Küchenschrank.

***

Sarah Chiyad Kurzgeschichte: Die Entfernung zwischen zwei TürmenZieht man eine gerade Linie von Jonathans Fenster zum Gebäude gegenüber, trifft man auf Constanze. Sie wohnt wie er im 25. Stock eines der Wolkentürme. Zwischen den beiden Häusern kann man aufgrund des heute außergewöhnlich klaren Wetters einen dichten Strom von Fahrzeugen sehen, die unablässig die Straßen entlangfließen. Constanzes Blick ist auf die funkelnde Oberfläche aus Windschutzscheiben und Autolack gerichtet, während ihre Finger mit ihrem neuen Seidenschal spielen. Sie ist aufgeregt und kann sich nicht erklären, warum. Vielleicht liegt es daran, dass sie Urlaub hat. Bei zu viel freier Zeit spielt ihr ihr Denken manchmal einen Streich, gibt vor, dass etwas unglaublich Bedeutendes darauf wartet, mit ihr geschehen zu können. Das Gefühl kann sein Versprechen nie einhalten und so keimt in dieser Aufregung immer auch schon Tr… etwas Negatives. Um sich vor solchen Gedanken zu schützen, hat sie bei der Ohrpost einen Seriennachmittag angemeldet, den Fernseher aber nach wenigen Minuten stumm geschaltet. Am Seidenschal haftet noch der Plastikduft von der Verpackung, in der er geliefert worden ist.

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Im Büro hatte es einen Zwischenfall gegeben. Die Ohrpost hat Jonathan immer noch nicht erklärt, was genau passiert ist, aber er hatte etwas Blut gesehen, als er zusammen mit seinen Kollegen in die Mittagspause gescheucht worden war. Soeben kam eine Durchsage, dass die Pause für die Mitbewohner aus Block 5c um zwei Stunden verlängert wird. Er seufzt und schaut auf das beige Arbeitssakko, das ordentlich über den zweiten Küchenstuhl hängt. Er geht daran vorbei ans Fenster, nimmt das kleine Fernglas vom Fenstersims und schaut hinüber. Da sitzt sie wieder. Er hat das Gefühl, dass er sie schon lange kennt. Seit Monaten geistert sie als eine Geschichte durch seinen Kopf, jede Veränderung der Haarlänge, jedes neue Kleidungsstück füllt er für sich mit Bedeutung. Er hat beinahe das Gefühl, er müsse einfach nur die Hand ausstrecken und könne sie anfassen. Dann richtet er das Fernglas auf den unbarmherzigen Fluss des Verkehrs 25 Stockwerke unter ihm und sie ist wieder unendlich weit entfernt.

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Laut einer Statistik leben die glücklicheren Menschen weiter oben, erinnert sich Constanze. Das wurde mal anhand der Selbstmordrate bemessen. Je tiefer jemand wohnt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass er sich irgendwann das Leben nimmt. Nur in dem Bereich, der normalerweise vom Wolkendunst eingeschlossen wird, ist sie noch einmal genauso hoch wie weit unten. Constanze hat aber auch schon von Bewohnern gehört, die von ganz oben in die Wolken gesprungen sind. Meistens hieß es dann, dass illegale Rauschmittel daran schuld waren. Es gibt aber auch beruhigender Statistiken. Unter den Menschen, die im Schutz der Wolkentürme leben, gehen die Fälle von Ertrinkenden gegen Null. Das wundert sie nicht. Das einzige Meer, das Constanze je live gesehen hat, ist der erbarmungslose Verkehr. Vielleicht ist es ja dessen unermüdliches Rauschen, das die Menschen in den unteren Ebenen in den frühen Tod treibt. So sind sie wohl, die Meere.

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Sie sieht heute trauriger aus als sonst. Ihre Stirn ist in Falten gelegt, die Augen sind glasig. Jonathan ist plötzlich beunruhigt. Er drückt den roten Knopf an der Theke.

«Hallo Jonathan», unterbricht die körperlose Stimme der Ohrpost wieder die Klaviermusik. «Was kann ich für dich tun?»

Jonathan überlegt kurz. Er sucht nach einer Formulierung, die nicht zu negativ klingt und vor allem nicht lächerlich. Dann spricht er es doch einfach so aus, wie es ihm durch den Kopf geht: «Die Frau da drüben. Warum ist sie wohl so traurig?»

«Einen Moment, Jonathan, ich suche nach einer Antwort … Keine Eintragung für traurig gefunden. Meintest du trau dich – die erste Lotterie für deinen persönlichen Platz über den Wolken?»

Sein Finger gleitet von dem Knopf. Als er wieder durch das Fenster schaut, sieht er, dass die Frau ihres nun weit geöffnet hat. Ist es der Mix-Fix-Bananenshake, der da in seiner Magengegend brennt? Ihre Füße baumeln durch die Öffnung. Und Jonathan beschließt, etwas Verrücktes zu tun.

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Gilt das schon als draußen sein?, denkt Constanze, oder muss man dafür durch eine Tür gehen? Ein kalter Wind schüttelt sie und sie greift fester in die flatternde Seide zwischen ihren Fingern. Sie hat nicht erwartet, dass der Verkehr so laut ist.

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Ohne weiter zu überlegen hat sich Jonathan seinen Mantel geschnappt. Er weiß nicht, ob es draußen warm oder kalt ist, aber will die Ohrpost nicht fragen, damit ihn der Mut nicht doch noch verlässt. Der Aufzug ist blockiert. Die Arbeiter von 6d warten darauf, zu ihrer nächsten Schicht transportiert zu werden. Als er in das Treppenhaus späht, wird ihm schwindelig. Wie eine Schraube winden sich die schmalen Stufen 25 Stockwerke nach unten. Die ersten davon laufen sich noch ganz gut und Jonathan fühlt sich so beschwingt, dass er am liebsten hinunter hüpfen würde. Wie gut sich doch Bewegung anfühlen kann! Doch je tiefer er kommt, desto stärker macht sich sein fehlendes Training bemerkbar. Ich sollte öfter die Treppe nehmen, denkt er, als er sich schwer atmend am Geländer entlang die Stufen runter zwingt.

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Constanze versucht sich von den dunklen Gedanken abzulenken, die statt der Wolken zwischen den Gebäuden aufgezogen sind. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas nicht gemocht hat. Das ist ihr persönlicher Erfolg aus den Anti-Negativitätsseminaren im 42. Stock. Sie denkt daran zurück und konzentriert sich auf ihre innere Dankbarkeit. Konzentriert sich darauf, nicht nicht-glücklich zu sein. In der Ohrpost gibt es ein Programm dazu, in dieser tiefen männlichen Stimme, die sie so mag. Aber ihr Körper will sich nicht bewegen.

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Als Jonathan im Erdgeschoss ankommt, ist er vollkommen durchgeschwitzt. Über seinem Arm hängt der schwere, schweißgetränkte Wollmantel. Er lässt ihn am Fuß der Treppe fallen und taumelt durch die Tür zur Rezeption. Es ist das zweite Mal in zehn Jahren, dass er sich an diesem eigentümlichen Ort aufhält. Ein Paketzusteller in glänzender Kleidung und Schirmmütze lehnt an dem riesigen, holzvertäfelten Schalter und diskutiert mit einer adretten Dame über das Paket, das zwischen ihnen steht. Der Lautsprecher an der Wand über ihnen knackt und die Ohrpost verkündet, dass die Reinigung der Büros von 5c noch eine Weile dauern wird. «Es wurden Teile einer unerlaubten Feuerwaffe gefunden. Wir weisen alle Bewohner noch einmal darauf hin, dass der Besitz von Feuerwaffen den höchsten Grad der Negativität darstellt und mit strenger Disziplinierung geahndet wird.» Der Paketbote schnaubt. «Sollen die mal versuchen, seine Einzelteile zu disziplinieren.» Die Dame an der Rezeption scheint ihn nicht gehört zu haben, denn kaum ist die Durchsage zu Ende, kommentiert sie die Größe des Pakets, so als sei nichts gewesen. Jonathan überlegt kurz, ob er den Mann auf seine Negativität hinweisen soll, doch dann wird der Gedanke von der Frage überschattet, wer es wohl war, den er heute das letzte Mal bei der Arbeit gesehen hat.

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Lügen fallen unter §3 der Strafbestandsordnung. Für die Selbstkontrolle der Bewohner ist das Mikrofon der Ohrpost mit einem Stimmanalysetool ausgestattet. Im Negativitätsseminar hat Constanze etwas über unbewusste Lügen gelernt. Deswegen traut sie sich gerade nicht an das Mikrofon, denn sie will eigentlich nicht wissen, dass sie entgegen jeder Statistik unglücklich ist. Eine Gänsehaut breitet sich auf ihren Unterarmen aus und sie zieht die Ärmel des Pullovers darüber.

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Jonathan tritt mit weichen Beinen durch die Flügeltür auf den schmalen Bürgersteig. Es ist einer der wenigen Straßenzüge, in denen die Gehwege noch nicht gänzlich durch Parkplätze ersetzt wurden, hat er einmal gelesen. Doch viel Nostalgie will bei ihm nicht aufkommen. Diese Perspektive auf die Welt draußen ist hässlich. Er fühlt sich eingekesselt von den verglasten Türmen und den vorbeirasenden Fahrzeugen, deren Abgase die Luft dick und drückend machen. Er legt die Arme um den fröstelnden Oberkörper und zwängt sich an dem Postwagen vorbei, der auf dem Gehsteig geparkt ist, hin zur Straße. Aus der Nähe ist der Verkehr beängstigend. Wie soll er da nur heil durchkommen? Unterhalb des Bordsteins kann er eine Reihe verwitterter weißer Linien auf dem Asphalt erkennen, ein Weg hinüber? Vorsichtig setzt er einen Fuß darauf und wird sofort durch ein wildes Hupen zurück auf den Bürgersteig gescheucht. Er greift sich an die Brust, die unter einem solch starken Pochen erzittert, wie er es noch nie gespürt hat. Vergeblich sucht er nach einer Lücke. Soll er umdrehen? Da hört er einen Schrei. Er blickt hinauf zum Fenster und sieht einen dünnen Stoff durch die Luft auf die Straße zusegeln. Er atmet noch einmal tief ein und geht dann einfach los.

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Constanze ist erstarrt, ihre Finger greifen plötzlich ins Leere. Das Hupen unter ihr schwillt an. Sie lehnt sich vor. Der Schal ist schon aus ihrem Sichtfeld entschwunden, doch etwas Anderes lenkt ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Fahrzeuge sind in beiden Richtungen stehen geblieben, sie bilden eine Gasse, durch die ein Mann hindurchschreitet. Sie kann ihn nicht genau erkennen, sieht nur, dass er schmal ist und gebückt – hält er sich etwa tatsächlich die Hände vor die Augen?

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Jonathan sieht nicht, wie er das Meer teilt. Er hört nur das unglaubliche Dröhnen der Hupen, während er im Zick-Zack über den verblassten Zebrastreifen wankt. Schließlich stößt er mit dem Fuß gegen den Bordstein. Er reißt die Hände herunter und springt lachend auf den Bürgersteig der anderen Seite. Er fühlt sich lebendig.

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Nun ist der Mann nicht mehr zu sehen. Wenn er überfahren wurde, dann außerhalb von Constanzes Blickfeld. Sein Verschwinden fühlt sich wie ein Verlust an, fast genauso wie der Schal, der ihr einen Schritt vorausgegangen ist. Sie schlägt die Hände vor die Augen und weint.

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Die Eingangshalle ist ein exaktes Spiegelbild derer, die Jonathan gerade erst verlassen hat. Die Ähnlichkeit der Einrichtung lässt ihn für einen kurzen Moment daran zweifeln, dass er wirklich in einem anderen Gebäude steht. Da fällt sein Blick auf die Rezeption und er atmet auf. Statt einer Dame steht ein junger Mann an dem Schalter. Kein Zweifel möglich, er hat es geschafft, er ist über die Straße gegangen und an einem Ort, der fast schon enttäuschend nicht-fremd ist. Jonathan tritt auf den Rezeptionisten zu.

«Wie kann ich Ihnen helfen?» Die Stimme des Mannes ist hoch und die Art, in der er spricht, erinnert ein bisschen an Jonathans Ohrpost.

«Guten Tag. Ich möchte in den 25. Stock. Bitte.» Jonathans Hals ist trocken von der schlechten Luft der Straße. Er räuspert sich und tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

«Privat oder geschäftlich?»

«Privat … denke ich.»

Der Mann nickt und gibt etwas in seinen Computer ein. «Die nächsten Aufzugfahrten sind für die Bewohner aus 2a und 15d reserviert. Unter einer Wartezeit von einer dreiviertel Stunde kann ich Ihnen nichts anbieten.»

Es rauscht in Jonathans Innerem, fast so, als hätte er etwas von dem Verkehr mit sich hineingetragen.

«Es ist dringend», sagt er. Seine Stimme klingt angespitzt, schärfer als er es gewohnt ist. «Die Frau da oben im 25. Stock, im Fenster …» springt … fällt vielleicht aus dem Fenster, beendet er den Satz in Gedanken. Es ist zu negativ, um es auszusprechen, also lässt er ihn unvollendet. Negative Gedanken formen eine negative Welt. Jonathan bezweifelt, dass der junge Mann ihm zugehört hat. Jener schaut auf seinen Computer-Bildschirm und zuckt mit den Achseln: «Die Ohrpost hat keine Auffälligkeiten im 25. Stock gemeldet. Soll ich Sie für die nächste Fahrt eintragen?»

Jonathan würde am liebsten brüllen, doch er presst die Zähne zusammen und murmelt: «Treppe?»

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Constanze denkt daran, wie abstrakt die Schwerkraft doch ist. Der Seidenschal ist so leicht hinabgeglitten als würde er tanzen. Und wie schön er dabei ausgesehen hat. Eigentlich sogar schöner als in dem Prospekt und das war immerhin eine professionelle Fotografie. Sie kämpft mit dem Impuls, noch mehr hinauszuwerfen, nur um diese kurze Schönheit noch einmal erleben zu können.

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Als er den fünften Stock passiert, spürt Jonathan ein unangenehmes Ziehen in seinem rechten Bein. Hoch ist viel anstrengender als runter, das hätte er sich auch denken können. Drei Stockwerke weiter hat sich das Ziehen in einen brennenden Schmerz verwandelt, der ihn jedes Mal von der Ferse bis zur Kniekehle durchzuckt, wenn er auftritt. Jonathan streckt der chromfarbenen 8 an der Wand die Zunge raus und lässt sie gleich draußen, weil er zu hecheln beginnt. Bei Stockwerk 13 denkt er daran, aufzugeben. Er hält sich die stechende Seite und lehnt sich an die Wand. Seine Oberschenkel pochen und sein Herz schlägt so schnell, dass Jonathan fürchtet, es könne sich jeden Moment aus seiner Brust losreißen. Seine Hand gleitet in seine Hosentasche, zieht das weiche Stück Stoff heraus und hält es an seine Nase. Es riecht nach Plastik. Er stopft es wieder zurück und humpelt weiter. Auch wenn es jeder Logik widerspricht, werden die Abstände zwischen den Geschossen für Jonathan immer größer. Schwarze Flecken tanzen vor seinen Augen, sodass er fast an dem Schild vorbeiläuft, das seine Ankunft verkündet. Als er es sieht, stürzt er förmlich aus dem Treppenhaus in den Flur

Er hätte nach ihrer Wohnungsnummer fragen sollen. Von den sich nach oben windenden Treppen ist ihm die Orientierung abhandengekommen. Wie in seinem Flur sind die Türen nur durch die eingestanzten Nummern zu unterscheiden. Keuchend wirft er sich gegen die, die ihm am nächsten ist. Trotz seiner Erschöpfung findet er noch die Kraft zu rufen, während seine Fäuste auf die glatte Oberfläche einhämmern.

«Hallo?!» Ein Mann in Jogginghose öffnet ihm. Sein Tonfall ist genervt, als er spricht: «Was ist denn mit Ihnen los?», sagt er, als sein Blick auf Jonathans hochrotes Gesicht fällt, «kommen Sie aus der Dusche? Sie sind ja ganz nass.»

Doch Jonathan späht nur an ihm vorbei zum Fenster. Falsche Wohnung. Er wendet sich ohne ein weiteres Wort ab und klopft an die nächste Tür. Es dauert nicht lange, bis er eine aufgebrachte Menge hinter sich herzieht. Die, die er nicht aus ihrer Wohnung gebrüllt hat, wurden von dem immer lauteren Stimmengewirr auf dem Flur angezogen. Einige reden auf Jonathan ein, wollen endlich den Grund für die Störung erfahren. Immer mehr von ihnen fallen jedoch in private Gespräche mit den Nachbarn, die sie sonst – wenn überhaupt – nur flüchtig auf der Arbeit sehen.  Unter das Geplapper der Bewohner mischen sich die unterschiedlichen Stimmen der Ohrpost, die durch die geöffneten Türen in den Flur schallen. Bald ist die Umgebung erfüllt von einer absurden Kakophonie.

Schließlich bleibt nur noch eine Tür geschlossen. Jonathan bahnt sich den Weg dahin und die Bewohner schwappen als fröhlich schnatternde Welle hinter ihm her.

«Ach, du magst auch Dickens? Ich habe da noch … Vielleicht können wir ja mal …» Die Masse drückt ihn gegen die letzte Tür. Selbst wenn er will, kann Jonathan nicht mehr umdrehen. Es ist so eng, dass er seine Arme nicht bewegen kann. Er ruft nach ihr, aber wie soll sie ihn aus diesem Lärm heraushören?

***

Etwas übertönt den Verkehrslärm. Constanze blickt verwirrt auf den Fernseher, doch der ist so stumm wie zuvor. Auch der Knopf der Ohrpost leuchtet nicht. Sie sitzt nun seitlich im Fenster, stellt einen Fuß auf den Teppich. Da hört sie ein lautes Knacken. Bevor sie reagieren kann, bricht die Tür samt Rahmen aus der Wand. Wild gestikulierende Menschen brechen herein und füllen den kleinen Wohnraum. Einige blicken Constanze fragend an, andere sind so in ihre Gespräche vertieft, dass sie einfach mit hineingeflossen sind

***

Endlich wird Jonathan aus der Masse auf den Teppich gespuckt. Sein Hals ist rau, seine Stimme kaum mehr ein Flüstern

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Die Wucht der Menschen hätte Constanze beinahe das Gleichgewicht gekostet. In ihrem Versuch, vor ihnen zurück zu weichen, lehnt sie sich immer weiter aus dem Fenster. Was soll sie tun? Da sieht sie ein kleines Stück Stoff, das zwischen schmalen Fingern aufblitzt. Ein Mann kauert dort auf dem Teppich, eine stumme Insel in dem Rauschen der Stimmen. Sie gleitet vom Fenstersims in die Wohnung und kämpft sich auf ihn zu. Als sie ihm die Hand reicht, um ihm hochzuhelfen, erkennt sie in ihm den Mann, der das Meer geteilt hat. Sie lächelt, als er ihr mit zitternden Fingern den Schal um den Hals legt. Dann nimmt sie ihn bei der Hand und zieht ihn aus der überfüllten Wohnung.

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