Dierk Seidel

Die Beispielschraube

Der Mensch an der Straßenecke fluchte: „Warum, warum verdammt nochmal habe ich jetzt die Beispielschraube verloren? Wie soll ich denn jetzt weiter machen?“

In dem Moment ließen Helene und Holger, Mitarbeitende der städtischen Bühnen, zwei Schauspieler, die als Engel und Teufel verkleidet waren, vom Balkon des Hauses an der Ecke hinab. Sie landeten sanft auf den Schultern des Menschen. Er war ein sehr, sehr großer Mensch und die beiden Schauspieler passten perfekt auf seine Schultern. Der Engel hieß im richtigen Leben Gregor und der Teufel Rüdiger.

„Kannst du nicht besser fluchen? Das war gar nicht mal so gut“, flüsterte Rüdiger dem Menschen ins Ohr.

„Ein Fluch ist kein Segen“, kicherte Gregor und der Mensch zuckte, weil er die beiden erst jetzt bemerkte.

„Wer seid ihr denn?“, fragte er und blickte immerzu von links nach rechts, konnte sie aber nicht richtig sehen.

„Wir“, setzte Gregor an, als ein Ruck durch seinen Körper fuhr und er schrie: „Aaaaaaaaaaaaaaaaaah.“ Die automatische Seilwinde hatte ihn unsanft nach oben gezogen.

Dort angekommen, sagte Holger: „Sorry, falscher Knopf.“

Und dann drückte Helene den richtigen und Gregor landete wieder auf den Schultern des Menschen.

„Ihr habt wohl ‘ne Schraube locker“, sagte dieser und lachte laut, sogar sehr laut, wenn man es genau nehmen wollte. Als er sich beruhigt hatte, fragte er wieder: „Wer seid ihr denn?“

Rüdiger übernahm das Wort: „Wir sind Schauspieler, machen hier ‘ne Freiluftübung, weil das Theater doch gerade saniert wird. Und bei dir so? Was ist denn eine Beispielschraube?“

„Ach, ich habe so ein kleines Schränkchen geerbt, in das wollte ich meine besonders geheimen Schätze hineinlegen, doch beim Einräumen, brach ein Scharnier aus ihren Angeln oder so in der Art. Und da es von sehr speziellen alten Schrauben gehalten wurde, diese aber bis auf eine plötzlich verschwunden waren, hatte ich nur noch eine Beispielschraube für den Baumarkt, und just eben kramte ich in meiner Tasche und da war die auch weg. Kann doch nicht sein, sowas.“

Der Engel Gregor lächelte sanft und sagte: „Ich würde das gar nicht so ernst nehmen, es wird sich schon die richtige Schraube finden, im Baumarkt sind die sicher kompetent und du hast bestimmt ein Foto von deinem Schränkchen gemacht, oder nicht?“

Der Mensch reagierte nicht.

Rüdiger schloss: „Geheimnisse sind was für Anfänger, lass den Schrank offen. Türen müssen offen sein, sonst kann man nicht hindurchgehen.“

„Achtung“, rief Helene und die beiden wurden wieder hochgezogen und verschwanden hinter dem Balkongeländer. Und der Mensch? Der fluchte so ungeheuerlich, dass man es hier gar nicht zu schreiben vermag.

Eine alte Frau kam vorbei, schüttelte den Kopf und sagte: „Sie haben wohl ‘ne Schraube locker.“

„Nein, nein, nein, ich habe die Schraube verloren, meine Beispielschraube.“