Dierk Seidel
Am Frühstückstisch oder was Onkel Heiner so sagt
Zu Ostern sind alle zu Oma Inge eingeladen. Das ist gar nichts Besonderes, denn Oma Inge lädt ständig die Familie ein – jeden Samstag zum Beispiel zum Pommes- und Bratwurstessen. Seit sie vor einigen Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, Opa Henne, vor Kummer halb Karstadt leergekauft hatte, nutzt sie ihre Fritteuse und ihren OptiGrill regelmäßig. „War das wirklich nötig, den ganzen Kram zu kaufen?“, fragt mein Vater Oma Inge auch noch heute. Sie antwortet dann meistens: „Ja, natürlich.“ Und damit ist die Sache erstmal vom Tisch. Zu den Pommesterminen kommt nie die ganze Familie, doch über einen Monat verteilt, sind alle mindestens einmal da. Nur einer fehlt immer: Onkel Heiner.
Aber zu Ostern hat er sich angekündigt. Wir Kinder kennen Onkel Heiner, den Bruder unseres Vaters, bisher nicht, und das, obwohl wir schon Mitte zwanzig sind.
Oma wohnt in einem Vorort einer großen Stadt im Ruhrgebiet, wo es so gerade noch eine letzte S-Bahnhaltestelle gibt. „Mein Weg zur Außenwelt“, sagt Oma öfter.
Diesmal hat sie zum Osterfrühstück eingeladen. 10 Uhr, seid pünktlich, stand in ihrer Whatsapp-Nachricht. Wir sind pünktlich. Mutter Hermine, Vater Helmut, meine Brüder Fabian und Felix, sowie Tante Helene und ich treffen uns am Hauptbahnhof und fahren die halbe Stunde hinaus aus der Stadt. An der Endstation steigen wir aus und schlendern den kleinen Pfad an den Schienen entlang zu Oma Inges Haus. Wir kommen an einer Kleingartenkolonie vorbei und wünschen allen möglichen Menschen frohe Ostern. Am Ende der Kolonie biegen wir links in eine Sackgasse ein und laufen geradewegs auf Omas Haus zu. Neben der Haustür hat Oma eine kleine Gartenbank, auf der sie manchmal sitzt und Kartoffeln für die Pommes schält. Jetzt sehen wir auf der Bank nicht Oma, sondern unseren Onkel Heiner. Zumindest denke ich das, denn auch Bilder habe ich noch nie von ihm gesehen. Mutter schiebt Vater etwas vor.
„Mach doch mal nen Anfang“ flüstert sie.
„Ja, doch“, erwidert er.
Da schiebt sich schon Tante Helene vorbei und streckt Heiner ihre Hand hin.
„Na, Heiner, sieht man sich auch mal wieder, ist bestimmt 30 Jahre her. Alt bist du geworden, wohnst du immer noch in, wo war das nochmal, irgendwas mit K, Kroatien, ne, Korsika, ne, auch nicht, Costa Rica?“
Heiner unterbricht Tante Helene: „Kiel, Helenchen, ich wohne seit 39 Jahren in Kiel.“
„Ach, ja, richtig.“
In dem Moment reißt Oma Inge die Tür auf und freut sich: „Ach, schön, ihr seid alle zusammen gekommen. Wie früher.“
„Früher“, erwidert Klugscheißerfabian, „geht gar nicht, weil wir noch niemals zuvor Onkel Heiner begegnet sind.“
„Sag Heiner“, sagt Onkel Heiner, „außerdem sind wir gar nicht zusammen gekommen. Ich war schon da.“
„Wie du warst schon da?“, fragt Oma Inge.
„Musste die Luft wieder spüren“, sagt Onkel Heiner.
„Papperlapapp, nun kommt rein. Frühstück ist fertig.“
Wir folgen ihr direkt ins Wohnzimmer. Der Esstisch ist festlich gedeckt. Unsere Jacken schmeißen wir wie immer aufs Sofa.
„Setzt euch hin, wo ihr wollt. Die Schokohasen sind für alle die gleichen. Und mehr gibt es nicht. Außer vielleicht, ihr werdet schon sehen.“
Wir suchen uns Plätze und sehen auf jedem Stuhl eine Decke. Omas berühmte Wolldecke. Oma hatte uns allen vor Jahren eine Wolldecke geschenkt, die sie zuvor mit ihrem Lieblingswollwaschmittel gewaschen hatte. Sie rochen immer nach Oma. Da nach einigen Jahren der Duft verflogen war, hatte sie an Weihnachten alle eingesammelt, um sie wieder zu waschen und zu trocknen. Wir wissen Bescheid, nur Onkel Heiner streichelt irritiert über die Decke an seinem Platz.
„Ja, Heiner, auch für dich ist eine Decke da, falls dir mal kalt wird, da oben in Kiel.“, sagt Oma.
„Danke, Mutter“, erwidert Heiner emotionslos.
Während des Frühstücks spricht Heiner nicht viel. Nach einiger Zeit sucht Felix das Gespräch:
„Onkel Heiner.“
„Nur Heiner, bitte.“
„Alles klar, Onkel, Oma sagte mal, dass du früher Musik in einer Band gemacht hast. Erzähl doch mal.“
Und Onkel Heiner sagt: „Wenn man eine Band gegründet hat, gehört viel Taktgefühl dazu, dem Sänger zu sagen, dass er raus ist, weil er seine Einsätze verpasst.“
Mein Vater haut wütend seine Kaffeetasse auf den Tisch. Wir schrecken alle hoch.
„Wirfst du mir nach 39 Jahren immer noch vor, dass ich taktlos war? Du warst es, der nie im Takt war.“
Onkel Heiner lächelt zufrieden.
„Dein Sohn hat gefragt, ich habe geantwortet.“
„Beruhig dich, Helmut, denk an deinen Blutdruck“, sagt Mutter.
Vater trinkt hastig seinen Kaffee und ich grinse. Dann nehme ich mein Notizbuch aus der Jackentasche und dokumentiere den Tag.
Onkel Heiner sagt zu mir: „Oh, du schreibst auch, wie schön. Was schreibst du denn so?“
„Lenk nicht ab“, brüllt mein Vater, „wir sind hier noch nicht fertig.“
„Doch, großer Bruder, wir sind fertig. Wir sind seit dem Moment fertig, an dem du mich aus der Band geworfen hast, weil ich den Einsatz bei Another Brick in the Wall nicht hinbekommen habe.“
„Was erwartest du denn? Das bekommt jeder hin, du hast das doch nur torpediert, weil du auch etwas von Linda wolltest.“
„Wer ist Linda?“, fragt Fabian.
„Unsere Schlagzeugerin“, sagen Vater und Onkel Heiner wie aus einem Mund.
„Was macht die eigentlich?“, fragt Onkel Heiner.
„Keine Ahnung, die ist kurz nach dir ausgestiegen und mit Rico durchgebrannt. Und dann war es aus mit der Band.“
„Wer ist Rico?“, fragt Felix.
„Das war unser Bassist, war wohl doch nicht so unscheinbar“, sagt Onkel Heiner.
Oma Inge hat während der ganzen Zeit in ihre leere Kaffeetasse gestarrt. Jetzt schaut sie hoch und sagt: „Heiner, wegen dieses Kinderquatschs hast du dich 39 Jahre nicht bei uns gemeldet? Ernsthaft? Das wollt ihr mir hier weismachen?“
„Die Band war mir wichtig.“
„Linda“, wirft mein Vater ein.
„Die Band, du Arschloch, die Band. Außerdem habe ich doch jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte aus Kiel geschrieben. Ihr hättet mich ja mal besuchen können, in Kiel.“
„Kiel, wer will denn schon nach Kiel?“, fragt Oma.
Sie steht auf, holt aus dem Wandschrank eine Flasche Korn und Gläser für alle.
„Jetzt stoßen wir an und dann mache ich Pommes, das beruhigt.“
„Oma, wir haben gerade gefrühstückt, es ist erst elf Uhr“, sagt Klugscheißerfabian.
Da hat Onkel Heiner schon getrunken.
„Ha, er ist schon wieder aus dem Takt, jetzt trinkt er schon zu früh“; jubiliert mein Vater.
Onkel Heiner lächelt, schenkt sich noch einen ein, trinkt auch den schnell auf und sagt: „Nun lass mal gut sein, Helmut, spar dir dein schlechtes Gewissen, ich bin ja wieder da und mir geht es gut. Frieden?“
Heiner hebt sein Glas und alle machen mit.
Wenige Tage später schreibt Onkel Heiner in unsere Familiengruppe:
Ostern war ja wieder schön. Fisch am Freitag. Braten am Sonntag. Eier verstecken für die Kleinen. Wirklich schön war das und nun ins Bett, Kinners.
Danach kommt lange Zeit nichts mehr von Onkel Heiner. Aber immer an Weihnachten kommt er zu Oma Inge, bringt seine Wolldecke mit und holt sie Ostern darauf wieder ab. Und manchmal, aber sehr selten, schreibt Onkel Heiner in unsere Familiengruppe das, was er eben so sagt.