Malte Klingenhäger
Stell dir vor, du seist Mensch
Stell dir vor, du seist Mensch. So schwer sollte dir das nicht fallen, ein bisschen Übung wirst du haben. Jedenfalls gerätst du als solche durch moderne Zeiten paddelnde Human-Entität, auch hin und wieder in den Sog der Familie. Der Anlass ist beliebig, ein Feiertag wird sich schon finden. Du hockst dann dort, bei deiner Großmutter, mit deinen Cousinen, Tanten, der Schwester und allerlei anhänglichen Mitessern und stopfst dich in den Gesprächspausen mit Süßkram voll. Der Kuchen auf dem Tisch ist Sinnbild der Zusammenkunft – so groß und klebrig, dass man nicht drumherum kommt. Und während du dir deine nächste Portion auf den Teller schaufelst, lässt du dich von Menschen, die im Kreise ihrer Familie sofort in altbekannte Rollenmuster fallen, auf den neusten Stand bringen. Das gilt im übrigen auch für dich, also beschließt du, die sanfte Ironie zu übersehen.
Zu Kuchen und Selbstmitleid gesellt sich irgendwann die Angst vor der unvermeidlichen Diskussion, dieser Ausgeburt emanzipatorischen Strebens, die allen am Tisch eine Stimme gibt. Seufzend sehnst du dich nach nie selbst erlebten Tagen, an denen bloß der Patriarch das Rederecht am Tisch besaß und sonst nur Gott zwischen Mensch und Essen stand. Da redete wenigstens nur einer Stuß, der Rest dachte sich seinen Teil. Immerhin dachte er.
Diese verbotene Sehnsucht amüsiert dich. Du hörst jedoch schnell mit dem Grinsen auf, als es deiner Schwester auffällt, denn noch hat sich kein diskussionstauglicher Reizpunkt gefunden, noch geht man die Todesfälle im Dorf durch. Ist ja auch ein dummer Gedanke, den du da hattest, wirklich dumm, weißt du selbst. Diskussion am Tisch, lernen, Standpunkte zu formulieren, das Weltgeschehen nicht nur vorbeirauschen zu lassen und Perspektiven zu wechseln – alles wichtig! Selbst die ständig wechselnden Mehrheiten am Tisch sind angeblich kein Ausdruck von Beliebigkeit sondern gut, das hat dir irgendwann mal ein befreundeter Therapeut verraten. Wenn man den Experten denn glaubt, läuft also etwas richtig in deiner Familie. Doch hier du hältst dich für ein ganz besonderes Kaliber von Experte und du spürst etwas völlig anderes. Gene, Fortpflanzung, du hockst mitten im Hort der Evolution, verdammt, du BIST die Evolution! Bloß, warum entwickeln die Gespräche sich dann kaum weiter?
Du kennst die Antwort. Weil der Sprecher nie deutlicher vor seine Botschaft tritt als im Kreise seiner Familie. Das Betätigen von Omas Klingel war das Opt-Out der Sachlichkeit. Ihre Standpunkte scheint deine bucklige Verwandschaft in ihre Stirnfalten eingraviert zu haben. Du brauchst sie nur anzusehen und kannst dein Wissen über sie nicht mehr von ihren Äußerungen trennen. Das genaue Gegenteil von Anonymität verhindert, dass das Thema zählt.
Zum Beispiel die Legalisierung von Cannabis – der (Verzeihung!) Evergreen der fehlenden Trennschärfe. Der Freund deiner Schwester tritt die Lawine los, als er unbefangen von einer Party erzählt, bei der er mal an einem Joint gezogen hat. Sofort verabschiedet sich deine Oma aus dem Gespräch mit dem kurzen Hinweis, von sowas habe sie keine Ahnung, wohl aber von Weißwein und der sei inzwischen kalt genug. Dann verzieht sie sich in die Küche.
Du bleibst zurück, während um dich herum die Schlacht bereits tobt. Deine Schwester versucht ihren Freund zu verteidigen, deiner Tante ist die beeinträchtigte Harmonie spürbar unangenehm. Die eine Cousine findet das alles ganz, ganz schrecklich, sie hat sowas schließlich nie gereizt, die andere hat einige Konsumenten im Freundeskreis und fühlt sich von der Richtung, die diese Diskussion einschlägt, in der Wahl ihres sozialen Umfeldes beleidigt. Claims werden abgesteckt, Gräben gezogen, Verbündete gesucht, Erkenntnisgewinn in der Sache wird als Ziel nicht einmal in Betracht gezogen. Abstruse Anekdoten fliegen tief, Halbwissen schleicht wie der Nebel des Todes um das Kaffeebesteck.
Zeit, sich auszuklinken.
Da fragst du dich derweil lieber, ob zweckgebundene Steuern, zum Beispiel auf THC, die Gesundheitskosten einer Legalisierung wohl auffangen würden. Ob sich da Erfahrungen mit Tabak übertragen ließen? Gibt es sowas wie zweckgebundene Steuern überhaupt oder müssen nicht alle zweckgebunden sein? Könnte man sie koppeln? Bei all der Verstimmung um dich schwirren die Fragen durch deinen Kopf wie ein wohltuendes Mobilé.
Es scheint dir, als wärest du schlauer als deine Familie, aber wer glaubt das nicht von sich. Deine Weisheit hältst du jedenfalls zurück. Perlen, denkst du und erwägst, dich in die Sofaecke zu lümmeln. Du weißt, was passiert, wenn du in die Diskussion einsteigst. Du müsstest dich dem Kampf stellen, in den Wirrwarr eintauchen und dort ist nichts zu gewinnen, eher noch zu verlieren, beispielsweise die Deutungshoheit, die in Gedanken doch so einfach ist.
Junge, Junge, hast du es schwer. Da hältst du dich vornehm zurück und schaffst es doch, mehr zu leiden, als alle anderen. Bringt ja eh nichts, ist einer dieser Sätze, die in deinem Kopf patrouillieren. Dumm nur, dass dir langsam dämmert, dass es die Diskussionen am Tisch waren, die dich im Überblick über verworrene Diskurse geschult haben. Die familiäre Tortur selbst hat das Höllenfeuer entzündet, in dem du grade schmorst. Diese Ironie ist dann nicht mehr zu leugnen und du tust, was deine Familie schon seit Jahrzehnten äußerst befremdlich findet und versteckst dich feige hinter einem wissenden Lächeln.
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