Dierk Seidel

Spiegelgesicht

Soll ich mich rasieren oder lieber nicht, frage ich mein Spiegelbild und es schweigt.
Ziehe ich eine Jeans an oder lieber eine Stoffhose, frage ich mein Spiegelbild. Und es schweigt.
Das Sacko oder die Lederjacke, die Halbschuhe oder die Springerstiefel, noch schnell zum Friseur oder es drauf ankommen lassen. Mein Spiegelbild schweigt weiter und starrt mich grimmig an. Ich hatte mir eine Spiegelwelt errichtet, in der Hoffnung, dass mir in jedem Raum meiner Wohnung ein anderes Ich die Alltagsfragen abnehmen kann. Ich wurde enttäuscht. Spiegel sein in meiner Spiegelwelt ist kein einfaches Geschäft. Geplagt von Selbstzweifeln, die ich laut vielen Freunden ja auch überhaupt nicht haben muss, geplagt von Schmerz, den die Unsicherheit mit sich bringt, schaue ich in die Spiegel und sehe keine Antwort, nur ein weiteres fragendes Gesicht starrt in mich hinein.
Soll ich mich rasieren oder lieber nicht? Gewinnen oder verlieren, frage ich das Spiegelgesicht. Und es schweigt.

Ich meine, so kleine Entscheidungen und Fragen, die einen tagtäglich beschäftigen, können doch das ganze Leben beeinflussen. Wenn ich mich nicht rasiere und nicht zum Friseur gehe dann bekomme ich auch den Job bei der Bank nicht, aber ich bekomme vielleicht dieses eine Mädchen, das auf Dreitagebart steht.

Dierk Seidel Kurzgeschichte: SpiegelgesichtUnd dann immer diese Türen. Man müsste einfach nur klopfen. Und rein gehen. Es sind ja keine Monster oder Nazis, die hinter Bürotüren sitzen. Was Knigge für solche Situationen sagt, ist mir scheißegal, weil es nicht darum geht, was richtig ist und wie man sich verhalten sollte. Sowas ist mir ja alles bekannt, aber ich habe trotzdem Angst zu klopfen. Es geht doch schon damit los, dass man klopft und nicht weiß, ob es reicht kurz danach rein zu gehen, nur um dann festzustellen, dass der Büromensch gerade beschäftigt ist, wild  gestikulierend am Telefon, mich böse anschaut und auf einen Stuhl verweist. Oder aber er ignoriert mich vollkommen, weil er gerade im persönlichen Gespräch ist, oder aber er setzt voraus, dass man auf ein Herein wartet, und schaut dementsprechend wütend, weil man stört.

Schöner ist ja noch, wenn die Türen so dick sind, dass man gar keine Reaktion hören kann, aber den Menschen drinnen das noch niemand gesagt hat, weil ja niemals jemand reinkommt, weil alle überaus höflichen Menschen auf ein Herein warten. Oder aber sie kommen eben nach Knigges 3-Sekunden-Warten rein und stören die Person im Büro bei etwas, das doch besser privat geblieben wäre.

Und auch hier bei offiziellen Anlässen in irgendwelchen bürokratischen Büros die Frage: rasieren oder nicht. Ich werde die Menschen hinter diesen Türen im besten Fall nie wieder sehen. Und dennoch schaue ich unsicher in den Spiegel. Soll ich mich rasieren oder lieber nicht, frage ich mein Spiegelgesicht und es schweigt. In Räumen, die ich nicht meine eigenen nenne, gibt es keine Spiegelgesichter, aber selbst wenn, sie würden mir genauso wenig helfen wie die Spiegelgesichter in meiner Wohnung. Wer auf Spiegel baut …, denke ich und rasiere mich nicht.

Ich will meine Bewerbung abgeben und stehe vor diesem riesigen Gebäude, der Schritt hinein ist nicht schwer, der Schritt innen drin fühlt sich dagegen an wie eine unendliche Last, die einen mit jedem weiteren Schritt tiefer nach unten zieht. Und Ich? Ich stehe mittlerweile vor dem Büro, das sich mit meiner Bewerbung befassen wird und ich frage mich, ob ich klopfen soll. Ja, natürlich soll ich klopfen. Dafür bin ich schließlich hier. Doch ich mache es erst einmal nicht. Diese Bürotür ist der Mittelpunkt meines Anliegens und ich wandere zwischen den beiden Türen links des Büros und den beiden Türen rechts des Büros auf und ab. Auf und ab und hin und her.
Auf was warte ich? Was erhoffe ich mir? Dass jemand rauskommt und mich lieb anlächelt und fragt, ob er mir helfen könne? Warum sollte das geschehen?
Ich klopfe an und sterbe innerlich. Ich warte nicht auf eine Antwort, drehe mich um und gehe. Morgen ist auch noch ein Tag.

Irgendein Morgen danach.
Ich wache auf und habe Kopfschmerzen. Richte mich auf und blicke als erstes in mein Gesicht. Es will rasiert werden. Ich rasier es zur Hälfte. Aber dann kommen wieder diese Fragen: Was esse ich, wenn kaum was da ist? Kaufe ich noch schnell was ein? Wo ist überhaupt mein Geld? Und meine Freundin, war die nicht eben noch hier? Na ja, das erklärt zumindest warum ich mein Geld nicht finde. Und immer so Fragen und mein Spiegelgesicht schaut verlegen zu Boden, weil es die Antwort nicht weiß.
Soll man bei Rot über die Straße gehen, wenn weit und breit kein Auto, kein Fahrrad und kein Fußgänger zu sehen ist? Und wenn ich es tue, warum kommt dann genau in dem Moment ein Polizist um die Ecke, und klärt das nicht eigentlich schon die Frage, ob ich überhaupt rübergehen soll?
Ist es auch Esspapier, wenn ich normales Papier esse? Ich höre auf. Das sind jetzt wirklich alberne Fragen.
Aber mal ehrlich, es geht sicherlich vielen so. Und meine Gedanken sind ein wenig egoistisch, aber im Grunde genommen bin ich nur ein kleines Rädchen im System, dessen Alltagsfragen nicht entscheidend sind.
Die Menschen, die Entscheidungen auf einer höheren Ebene treffen müssen als ich, werden sich wahrscheinlich noch viel mehr wünschen, dass ihnen mal ein Spiegelgesicht antwortet.
Da geht es nicht um die richtige Frisur oder die richtige Kleidung. Für soleche Entscheidungen haben diese Personen andere Personen.
Aber wenn es um die wirklich wichtigen Dinge geht wie den Atomausstieg, Friedensverhandlungen, Asylrecht, Kinderrechte und noch vieles mehr, dann müssen sie entscheiden, und sie entscheiden nicht immer richtig. Im Gegenteil. In den seltensten Fällen habe ich das Gefühl, dass es gelingt und ich frage mich, wie man etwas ändern kann an falschen Entscheidungen, die unser aller Leben beeinflussen.
Und dann bitte ich mein Spiegelgesicht, wenn schon nicht bei mir, dann geh los in die Spiegel von denen, die entscheiden, und sprich!

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