Yasmin Alinaghi
Öhr Brüllée
Heute war es also soweit. Klaus blickte nervös in den Spiegel – und seinem großen Tag entgegen. An diesem Tag würde er der Familie in Istanbul vorgestellt werden. Als echtes Kind des Ruhrgebiets war er bisher noch nie mit türkischen Bräuchen und Traditionen in Berührung gekommen. Aber seit er Nazli vor gut eineinhalb Jahren kennen und lieben gelernt hatte, hatte er zumindest eine grobe Ahnung bekommen, auf was es im Umgang mit der künftigen Verwandtschaft ankam. Als Dirigent mit Engagement an der Rhein-Ruhr Philharmonie dürfte er beruflich als grundsolide gelten. Dass er geschieden war und zwei Töchter im Teenageralter hatte, stellte laut Nazli einen Makel dar, über den ihre Sippe unter Umständen generös hinwegzusehen bereit sei. Klaus hatte zwar nicht ergründen können, welche Gesichtspunkte diese Großzügigkeit begünstigen könnten, aber sei’s drum. Jetzt galt es zunächst, sich dem Anlass entsprechend äußerlich präsentabel zu machen. Nazli und er waren schon vor zwei Tagen angereist. Zur Akklimatisierung. Bevor sie sich in die Fänge der Familie begaben, wollte Klaus die Sehenswürdigkeiten Istanbuls als ganz normaler Tourist erkunden. Die Schönheit und Lebendigkeit der Stadt und die besondere Atmosphäre des Bosporus hatten ihn unmittelbar und vollständig in den Bann gezogen. Im Nachhinein betrachtet war es allerdings keine gute Idee gewesen, vor dem offiziellen Anreisetermin durch Nazlis Geburtsstadt zu schlendern. Denn sie war die gesamte Zeit nervös und ängstlichst darauf bedacht, nicht zufällig einem Verwandten in die Arme zu laufen. Wenn man berücksichtigte, wie viele Einwohner Istanbul zählte, dann musste Klaus davon ausgehen, dass die Liebe seines Lebens entweder paranoid oder aber die Familie deutlich zahlreicher als angenommen war. Er gestand sich ein, dass ihm beide Varianten Unbehagen bereiteten. Auf den Streifzügen durch die Stadt, die natürlich Besichtigungen der Hagia Sofia, der blauen Moschee und des großen Bazars einschlossen, entdeckte Nazli unweit ihres Hotels einen Barbier der alten Schule. Entzückt und keinen Widerspruch duldend verordnete sie einen frühmorgendlichen Besuch bei diesem Herrenfrisör. Ihr Auserwählter habe selbstverständlich, wie es bei türkischen Männern üblich war, mit tadellos gestutzten Bart- und Nasenhaaren bei der Familie zu erscheinen. Klaus war nicht wohl bei dem Gedanken, sich in die Hände des dürren Figaros mit dem noch dürreren Schnurrbart zu begeben. Sein Rasiermesser schwang und wirbelte der Frisör virtuos durch die Luft und ließ es auf dem Gesicht des Kunden tanzen, der vor Klaus an der Reihe war. Erstaunt registrierte er die Gelassenheit, mit der sich sein Vorgänger im Stuhl ausstreckte. Auf dessen Antlitz zeigte sich offenkundiger Genuss, während Klaus schon beim bloßen Zusehen der Schweiß unter die Achseln und auf die Stirn trat. Doch todesmutig und bereit, für seine interkulturelle Liebe Opfer zu bringen, setzte er sich in den freigewordenen Frisörstuhl. Nazli schien dem Barbier eindringlich zu erklären, dass ihr Liebesglück von der Rasur abhing. Jedenfalls redeten beide ohne Unterlass und mit wachsender Begeisterung. Der Bartschneider schritt derart beflügelt zu Werke, dass es Klaus ganz schwindelig wurde bei dem Versuch, jeder Bewegung des teuflisch scharfen Messers mit Argusaugen zu folgen. Schließlich atmete er erleichtert auf, als der Figaro nach scheinbar getaner Arbeit mit einem heißen Tuch seine Wangen betupfte. Klaus erlaubte sich, die erschöpften Augen zu schließen, nur um sie kurz darauf vor Schreck geweitet wieder aufzureißen, als er kaltes Metall im rechten Nasenloch spürte. Der Blick in den Spiegel offenbarte, dass der kühle Edelstahl zu einer Schere mit beunruhigend langen Schneideblättern gehörte. Die Betrachtung der sich in rascher Folge öffnenden und schließenden Klingen ließen ihn um Fassung ringen. Hilfesuchend versuchte er, Nazlis Aufmerksamkeit zu erlangen, leider erfolglos, da er keinerlei Bewegung wagte, um ein versehentliches Durchstoßen seiner Nasenscheidewand zu verhindern. Seine unartikulierten Laute der Hilflosigkeit bemerkten weder Nazli noch der Barbier. Im Gegenteil brach Nazli in Lachen aus, als Klaus angesichts eines brennenden Wattestäbchens, mit dem sich der übermotivierte Frisör seinem Ohr näherte, vollends die Fassung verlor und gellend um Rettung flehte: „Hilfe, ich will nicht das gleiche Schicksal wie Beethoven erleiden. Ich arbeite mit meinem Gehör. Genug ist genug! Hilfe! Du musst diesem Wahnsinn ein Ende bereiten!“ Nazli lachte ebenso vergnügt wie der Barbier, der seinen Blick bestätigungsheischend zu ihr lenkte, statt ihn auf das brennende Ohrenstäbchen zu heften.
Beim Abendessen erzählte der Frisör seiner gebannt lauschenden Familie erschüttert, dass deutsche Männer offensichtlich sehr empfindsam seien. Heute habe ein Kunde wie ein verzogenes Kind nach ihm geschlagen und sei schreiend aus dem Laden gelaufen.
Nazli holte Klaus erst nach mehreren hundert Metern ein, als er im erstbesten Lokal völlig durchgeschwitzt in einem Sessel zusammensackte. Unter Nazlis fassungslosem Blick stürzte er um zehn Uhr morgens ein Efes-Bier auf ex hinunter und ließ diesem ein zweites und drittes folgen. Die verbrannte Stelle an seinem Ohrläppchen ignorierte sie beflissen, als sie beruhigend auf ihn einsprach. Erst gegen Abend hatte er sich wieder so weit im Griff, sie endlich zu der seit Stunden wartenden Familie begleiten zu können. Nazli dankte ihrer Mutter im Stillen für die extra Portion Knoblauch, die sie unmittelbar nach der ersten Umarmung des zukünftigen Schwiegersohns ins Essen mischte. Durch diesen weisen Schachzug musste Nazli auch Jahre später nur ihr und nicht der kompletten Verwandtschaft in regelmäßiger Wiederholung versichern, dass ihr Auserwählter kein Alkoholiker sei.
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