Yasmin Alinaghi

Nur eine Minute

Yasmin Alinaghi Kurzgeschichte: Nur eine MinuteTanja schlenderte den sandigen Pfad durch die Dünen zum Wohnmobil zurück. Sie trug die gelbe Plastikschüssel mit dem gespülten Geschirr vor sich her, das karierte Spültuch hatte sie sich über die nackte Schulter geworfen. Sie summte und freute sich auf ein Nickerchen im Schatten der Pinienbäume. Bis die Zwillinge im Campingbus aus dem Mittagsschlaf aufwachten, würde es hoffentlich noch ein Weilchen dauern. Sie schaute zum Strand, wo ihr Mann mit Simon Judogriffe übte. Ihr ältester Sohn trainierte mit Feuereifer für die Prüfung zum gelben Gürtel, die nach den Sommerferien stattfinden sollte. Er wollte genauso gut in Selbstverteidigung werden wie sein Papa, der den höchsten Meistergrad innehatte und den roten Dan trug. Und wenn Simon groß wäre, würde er auch zum SEK gehen. Der Sechsjährige jubelte, als er sein Idol mit einem perfekten Ashi-Barai zu Boden schickte. Tanja winkte den verschwitzten Kämpfern im Vorbeigehen zu. Die letzte Windung des Pfades gab den Blick auf den Stellplatz und den im Schatten geparkten Campingbus frei. Es war kein Kindergeschrei zu hören, die Zwillinge schliefen also noch. Als sie um die Ecke bog, stockte ihr der Atem; zwei junge Männer kletterten aus dem Seitenfenster des Wohnmobils. Die Spülschüssel rutschte ihr aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. Sie war wie erstarrt; die Angst um ihre Babys schnürte ihr die Kehle zu. Die Einbrecher hörten das Scheppern des Geschirrs, drehten sich kurz zu ihr um, lachten frech und rannten leichtfüßig davon. Im Laufen warf sich der Größere von beiden lässig einen Rucksack über die Schulter. Endlich erwachte Tanja aus ihrer Schockstarre und schrie gellend: „Alex, oh Gott, die Typen waren bei uns im Wohnmobil.“ Ihr Mann sprang sofort alarmiert auf und sondierte die Lage: rechts der Stellplatz und der Campingbus. „Scheiße, die Kinder!”, durchfuhr es ihn. Die Angst um sie pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Links seine Frau, die mit ausgestrecktem Arm auf zwei wegsprintende Halbstarke deutete. Sie trugen Jeans und T-Shirts und boten daher ein unübersehbares Ziel auf dem FKK-Platz.

Sie hatten nur eine Minute Vorsprung, schätzte Alexander. Zu wenig, um zu ihm entkommen. Er war gut in Form, zu gut für diese Typen.

„Simon geh’ zur Mama. Jetzt!“ Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Der Junge gehorchte sofort und Alex sprintete los – nackt und ohne Schuhe. Die Schwachköpfe hatten sich den Falschen ausgesucht, Hausbesuche waren seine Spezialität. Hinter der Schranke des Campingplatzes ging der sandige Pfad in einen Schotterweg über. Alex ignorierte die spitzen Kieselsteine, die sich in seine Fußsohlen bohrten. Sein Blut pochte in den Adern, sein Körper hatte auf Autopilot geschaltet. Einatmen! Ausatmen! Er lief ruhig und effektiv. Nur eine Minute zwischen ihm und den Dieben. Einatmen! Ausatmen! Der Kieselpfad ging in einen asphaltierten Weg über, der zum nahe gelegenen Dorf führte. Der Asphalt war glühend heiß. Alexanders Füße bluteten, doch er spürte keinen Schmerz. Einatmen, Ausatmen. „Nur eine Minute, ihr Arschgeigen!”

Der Irre kam immer näher. An der Schranke des Campingplatzes drehten sich die Diebe zum ersten Mal um und bemerkten verblüfft den Wahnsinnigen, der splitternackt hinter ihnen herrannte. Der Größere von beiden stieß seinem Kumpel in die Rippen und lachte dreckig. Kurz vor dem Ortseingangsschild blickte er sich bereits zum vierten Mal um. Er hatte Seitenstechen und so langsam kroch Panik in ihm hoch. Als die Häuser des Dorfs in Sicht kamen, warf er den Rucksack weg, aber wie sich herausstellen sollte, nutzte dieses Manöver weder ihm noch seinem Freund. Das Lachen war ihm längst vergangen. Der nackte Irre klebte ihnen weiterhin an den Fersen und holte auf.

„Merde, nur eine Minute höchstens!”

Oma Ivette hatte sich im Laufe ihrer 80 Lebensjahre an so manche Verrücktheit der FKK-Touristen gewöhnt. Entweder hingen sie oben ohne im Kletterwald in den Bäumen oder schlenderten unten frei über den Fischmarkt. Die alte Dame saß am liebsten auf der Bank vor ihrem Haus. Von dort hatte sie das Dorfgeschehen im Blick. Und es gab immer etwas zu sehen! Einer dieser Nudisten sprintete soeben an ihr vorüber. Barfuß bis zum Hals! Nur eine Minute zuvor waren bereits zwei junge Burschen an ihr vorbeigerannt, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her. Einer der beiden hatte die Frechheit besessen, seinen Rucksack in hohem Bogen in ihren Vorgarten zu schleudern. Mitten auf dem Dorfplatz stürzte sich der Nackte auf die Jugendlichen, wie der Hunger auf die Dritte Welt. Ihre verzweifelten „Au secour“-Rufe mischten sich mit dem Geräusch von Fäusten, die auf Haut prallen. Oma Ivette alarmierte die Gendarmerie. „Genug ist genug!”

Als Kommandant Dubière mit seinen Männern auf dem Dorfplatz eintraf, hatten die Jugendlichen das Bewusstsein und einige Zähne verloren. Der Notarzt war unterwegs. Das gesamte Dorf und zahllose Touristen drängten sich um das Geschehen. Eine rüstige alte Dame bahnte sich resolut einen Weg durch die Menge der Schaulustigen. Verbissen zerrte sie einen Rucksack hinter sich her und legte ihn neben den ohnmächtigen Jugendlichen ab. Seine Gendarmen hielten den nackten Amokläufer mit ihren Dienstwaffen in Schach. Die Gesichter spiegelten Entschlossenheit wider. Der Irre würde die volle Härte der französischen Justiz zu spüren bekommen. Bei ihrem Zugriff hatte er von den Opfern abgelassen und sich mit erhobenen Händen gestellt. Kommandant Dubière befahl, ein Handtuch herbeizuschaffen. Der Delinquent sollte seine Blöße bedecken, und zwar „Tout de suite!” Dann nahm er den Rucksack in Augenschein. Oma Ivette hatte sich nicht abwimmeln lassen. Er förderte Bargeld und Reisepässe zu Tage. Die angeblichen Opfer waren also Diebe. Das änderte die Sachlage grundlegend. Ein Dokument erregte seine Aufmerksamkeit. Er stoppte seine Männer, die im Begriff standen, den vermeintlichen Aggressor abzuführen. Er blickte dem Verhaften ins Gesicht und verglich es mit dem Foto auf dem Dienstausweis in seiner Hand. Er bellte einen kurzen Befehl, gefolgt von einer knappen Erklärung. Unverzüglich steckten die Gendarmen die Dienstwaffen weg. Ihre Mienen hellten sich auf; der Mann war einer der ihren. Anerkennend klopften sie dem deutschen Kollegen auf die Schulter.

„Gute Arbeit.”

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