Torsten Schoeneberg
Eine Urlauberin in Belgrad
Im Museum für jugoslawische Geschichte haben wir uns am Vormittag erkannt: He, sind wir nicht im selben Hostel? Und sind dann getrennt weitergegangen. Eine halbe Stunde später sehen wir uns wieder, auf dem ansteigenden Weg zum Tito-Mausoleum. Wir reden über dies und das – „ah, schau mal, die kleine Skulptur in dem Beet“ – „das Kassenhäuschen sah ja aus wie aus den 70ern“ – und gehen im Mausoleum wieder getrennte Wege. Genauer gesagt, sie geht schneller als ich; ich nehme mir etwas mehr Zeit für Fotos von Tito mit Schauspielerinnen und Jean-Paul Sartre, für Titos Hüte, Titos Schuhe, Titos Kugelschreiber und besonders Titos Sonnenbrillen. Zum Schluß stehe ich vor seinem marmornen Grabstein. Sie steht da hinten, und ich meine aus dem Augenwinkel zu sehen, wie sie überlegt, ob sie auf mich warten soll … Sie wartet. Ich schließe zu ihr auf. „Der scheint jedenfalls ein faszinierender Mann gewesen zu sein“, sage ich. „Oh ja!“, bestätigt sie.
An der großen Straße vor dem Museumshügel steigen wir gemeinsam in den Bus, den wir für den richtigen halten. Sie ist Amerikanerin, aber jetzt lebt sie in Rußland. Ihr beigefarbener Mantel hat oben Pelz, und eine helle Mütze trägt sie über ihren langen dunklen Haaren. Für zwei Wochen mache sie Urlaub in Südosteuropa, die seien jetzt fast um, morgen Vormittag fliege sie nach Sarajevo und drei Tage später von dort zurück nach Rußland. Ob ich zufällig ukrainisches Geld bräuchte? Sie habe noch welches vom Anfang ihrer Reise und hatte gehofft, es gegen Rubel oder Dollar eintauschen zu können.
Endstation des Busses irgendwo in der Vorstadt. Die letzten Tage sei sie hier in Belgrad viel herumgelaufen, sagt sie, aber hier kenne sie sich auch nicht aus. Wir verstehen die Fahrpläne nicht, sind aber dann recht sicher, daß wir ein Stück zurücklaufen müssen. Sie sagt, sie brauche jetzt erstmal einen Snack, und kauft im Kiosk eine Coca-Cola-Dose und ein Stück Schokolade. Für die Cola entschuldigt sie sich, sie sei eben eine verzogene Amerikanerin.
Wir gehen. Es ist ein sonniger kühler Nachmittag im Januar, einige Wohnblöcke könnten genau so im Ruhrgebiet stehen. Klapprige Busse passieren uns. Sie rülpst und lacht, sie sei so verzogen. Ab und zu bleibt sie stehen und macht Fotos: Alte heruntergekommene Gebäude möge sie, und manchmal einfach Szenen von Verfall, daran sei etwas Schönes. Gestern sei sie an den zerbombten Gebäuden vorbeigekommen, die seien sehr beeindruckend gewesen.
Bis vor ein paar Jahren hatte sie einen langweiligen Bürojob, in Florida, und irgendwann dachte sie „so will ich nicht weiterleben!“, und dann ist sie nach Rußland gegangen, um dort als Englischlehrerin zu arbeiten. Wobei eine Seite ihrer Familie auch ursprünglich aus Rußland stamme. In Wolgograd lebe sie. Millionenstadt. Es gehe da einigermaßen. „Ist das nicht das frühere Stalingrad?“ frage ich. Jaja, sagt sie. „Und stimmt es, daß die Stadt jetzt jedes Jahr zum Gedenken für eine Woche wieder in Stalingrad umbenannt wird?“ Jaja, sagt sie.
Wir steigen wieder in einen Bus, welcher Richtung Altstadt fährt. Plötzlich sagt sie, hier sollten wir aussteigen, die Gegend kenne sie von ihren Wanderungen der letzten Tage. Ob ich ihr vertraue? fragt sie dann ganz eindringlich. Ich sage, ich vertraue ihr – und im übrigen hätte ich ja keine anderen Pläne für den Tag.
An der Straße, an der wir jetzt entlang gehen, stehen einige Gebäude der vorletzten Jahrhundertwende, Gründerzeit. Sie fotografiert Details, ein Dach, einen Erker. Ich bemerke ein Denkmal für Zar Nikolaus und die russisch-serbische Freundschaft. Und dann kommen wir wirklich, wie sie ankündigt, an den Gebäuden vorbei, die – zur letzten Jahrhundertwende – von der NATO bombardiert wurden, und welche die Stadt offenbar als Mahnmal stehen zu lassen beschlossen hat. Eins ist das ehemalige Verteidigungsministerium. Für mich ist es das erste Mal, daß ich ausgebombte Gebäude sehe. Seit 15 Jahren stehen sie so da.
Wir kommen zu dem Platz, wo das Belgrader Rathaus und an der anderen Seite das serbische Parlamentsgebäude stehen; ab hier wüßte auch ich wieder, wie ich durch die Fußgängerzone zum Hostel zurückkäme. An einer Ampel schaue ich zum x-ten Mal einer Passantin hinterher, und als ich gerade überlege, ob ich meiner Begleitung gegenüber erwähnen soll, daß unheimlich viele Serbinnen unheimlich scharf sind, da sagt sie: „Die Kerle hier sehen alle so geil aus.“ Sie stehe auf Typen, die aussehen, als wären sie potentielle Killer, und so sähen hier einige aus.
In der Fußgängerzone beschließen wir, uns noch in ein Café zu setzen, genauer sitzen wir als einzige draußen, unter einem Heizpilz, und sie wirft sich noch eine bereitliegende Decke um; dafür nimmt sie jetzt die Mütze ab und öffnet ihre Haare. Mit dem Handy versucht sie eine Verabredung mit einem Amerikaner, den sie vorgestern kennengelernt hatte, für heute Abend klarzumachen. Ich wollte heute das Restaurant „?“ ausprobieren, sage ich. Sie sagt, sie habe unseren Nachmittag wirklich genossen, aber heute Abend hätte sie gerne diesen Kerl für sich allein, ich sei hoffentlich nicht enttäuscht. Sie fragt, ob ich mich für Fotografie interessiere; ob ich Dorothea Langes Werk kennte. Von der gebe es ein sehr berühmtes Bild, „Migrant Mother“, das solle ich mal nachschauen. Sie schreibt es mir auf – mit Kontextvokabeln: Great Depression, New Deal – in mein Notizbuch, in dem ich Kontaktdaten von Reisebegegnungen sammle. Sie schreibt auch ihre Mailadresse hinein.
Wir schätzen gegenseitig unser Alter; wir unterschätzen uns gegenseitig. Einmal sagt sie, die 90er, das seien ihre wilden Jahre gewesen, sie habe viel getanzt und viel Zeug genommen. Gesund sei es nicht gewesen, aber lustig. Ich vermute inzwischen, daß sie es war, die im Achtbettzimmer letzte Nacht so laut geschnarcht hat. Und dann sagt sie, es sei hier so schön, diese Fußgängerzone, ob mir das auffalle: Die Leute gehen einfach entlang, einzeln und in Gruppen, und unterhalten sich leise: Niemand schreit. – Noch einmal entschuldigt sie sich, aber sie möchte ihren letzten Abend wirklich mit jenem Typen verbringen. „Er hat eine so faszinierende Sicht aufs Leben“, sagt sie.
Ich esse später allein unter Live-Balkanmusik im Restaurant „?“, sitze danach im Hostel noch lange wach, und schreibe. Als ich schließlich im Bett liege, zwischen Drei und Vier dürfte es sein, höre ich Lachen, Grölen und Laufen, was sich nach einer Weile beruhigt, so daß ich einschlafe – ehe ich im ersten Morgenlicht, so gegen Acht, im Bett geschüttelt werde und ihr Gesicht breit grinsend über meinem erscheint. „Ich habe fast mit einem Taxifahrer gevögelt!“ platzt es aus ihr, und aufgedreht rekapituliert sie die Nacht, während ich mich zum Sofa im Gemeinschaftsraum schleppe. Der, mit dem sie essen war – naja, das sei doch eher enttäuschend gewesen. Also habe sie sich noch mit anderen Leuten abgesetzt, sei schließlich allein unterwegs gewesen, und dann hätte sie diesen Taxifahrer kennengelernt und mit ihm rumgemacht. Aber richtig gebumst hätten sie dann doch nicht, denn er hatte kein Kondom dabei. Sie sei ja so verrückt. Und verzogen. Na schließlich habe Sascha – der Taxifahrer – sie zum Hostel zurückgebracht, und der Nachtrezeptionist sei so lieb gewesen und habe sie hier auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum gebettet. Der kommt gerade vorbei, seine Schicht ist um – er schmunzelt und sagt, es sei gar nicht leicht gewesen, sie zum Schlafen zu bewegen. Sie lacht und sagt, sie habe halt noch etwas kuscheln wollen. Als er gegangen ist, sagt sie, sie sei natürlich jetzt noch betrunken, aber es gehe schon, sie müsse jetzt nur noch packen und duschen und dann den Flug nach Sarajevo kriegen, im Flieger könnte sie dann schlafen.
Ich frühstücke auf dem Sofa, sie packt drüben im Zimmer, aus dem inzwischen alle anderen ausgeflogen sind, schließlich kommt sie grinsend heraus und schlüpft ins Bad am Ende des Flurs. 20 Minuten später saust sie, mit einem Handtuch um die Haare und sonst nur mit einer Jeans bekleidet, die Arme vor den Brüsten gekreuzt, an mir vorbei ins Zimmer zurück. Als sie dann reisefertig mit ihrem Koffer kommt, sage ich, ich hätte mich gerade sehr zurückhalten müssen, nicht unter einem albernen Vorwand ins Zimmer zu kommen um einen Blick auf ihre Brüste zu werfen, sie reißt die Augen auf und sagt: „Wow, wow, mal langsam!“
Das Taxi zum Flughafen ist bestellt, sie setzt sich noch zu mir und sagt, etwas ruhiger, na jetzt sei sie doch ganz froh nicht mit ihm gevögelt zu haben, er hatte auch Frau und Kinder … und außerdem einen ziemlich kleinen Schwanz. Ich stutze: „Wenn ihr nicht gevögelt habt, woher weißt du … ?“ Jaaa, sagt sie, er hatte ihn draußen, und da hat sie gesehen, daß da nicht viel war, und dann hat sie gefragt ob er ein Gummi hat, und er hatte keins, und da war sie dann ganz froh drum. Ich muß mich wieder zurückhalten, etwas zu sagen von „Na, wenn’s dir darum geht, dann hättest du –“ aber dann kommt schon ihr Taxi, wir umarmen uns noch einmal und sie verschwindet.
Als ich mich am Abend hinlege, finde ich ukrainisches Geld in meinem Bett.
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