Torsten Schoeneberg

Ein Chinese im Schnee

Der ungewöhnlich gekleidete, kleine kräftige Kerl war mir schon aus der Ferne aufgefallen, als er am Kassenhäuschen mit dem Mann hinter der Scheibe gestikulierend-kollegial plauderte (oder hatte er bloß den Ellbogen vor der Scheibe aufgestützt?). Auf der Fähre sind noch ein paar andere mit Rädern, wie ich, die Wolken geben heute immer wieder für ein paar Minuten die Sonne frei: Tagesausflug nach Toronto Island, wo der Vergnügungspark zu dieser Jahreszeit geschlossen ist und es somit bloß wenige Wege, Grünflächen, ein paar kalte Strände und stillstehende Attraktionen gibt. (Ein Baumweg, später; ein Ginkgo; Schachtelhalme.)

Eine sehr gekleidete junge Frau mit Modehut und einem in Rosa eingepackten Kleinhund, die ihren kahlgeschorenen Begleiter anweist, von wo er sie, mit dem Tier, zu fotografieren habe. Der kleine Kräftige, der eben noch mit einem der Fährarbeiter gesprochen hatte, kommt zu mir und bittet mich, Photos von ihm zu machen.

05-2015-Torsten-Schöneberg-Kurzgeschichten-Menschen-Ein-Chinese-im-SchneeEr habe früher auf diesen Fähren gearbeitet, jetzt sei er in Rente. Geboren sei er in China. Deutschland, da habe er studiert, „Ingenieur“ sagt er auf Deutsch, aber das sei lange her. In Kanada hätten sie ihn später hoch in den Norden versetzt, da gebe es viele Eskimos, viel Schnee und kein Telephon. Er trägt eine beigefarbene Lederjacke, an den Rücken ist ein schwarzgrauer Rucksack geschnallt und auf dem Kopf hat er einen hellbraunen Mountie-Hut, an dem Blätterschmuck aus Silber baumelt. Ich denke: Mit seinem braungebrannten faltigen Gesicht sieht er selbst aus wie ein Inuit.

Warum würde ich so eine lange Reise machen? Keine Freundin? Das sei schlecht. Ich solle ein Zuhause finden.

Als erster zeigt er auf das Flugzeug, das plötzlich tief über uns lärmt (die Bucht zwischen Toronto und der Insel ist die Einflugschneise des Flughafens). Als wir anlegen, gibt er mir zweimal die Hand und macht ein Photo von mir.

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