Torsten Schoeneberg

Der Schuster

Torsten Schoeneberg Kurzgeschichte: Der SchusterDurch das große Schaufenster leuchtet es warm aus seinem Laden; tritt man ein, so ist gleich rechts seine Theke, und ein paar Schritte weiter hinein trennt eine Wand den hinteren Teil der Werkstatt ab. Er spricht gerade noch mit einem anderen Kunden, einem älteren Herrn, an dem ich mich vorbeischlängle. Wenn jetzt noch jemand hereinkäme, würde es schon eng, denke ich, und setze mich auf einen der zwei Stühle, die vor der Wand stehen. Mit dem Herrn spricht er nicht über Schuhe, sondern Smalltalk über diese und jenen hier im Vorort. Rund um die Eingangstür hängen acht oder neun Urkunden: In jedem der letzten Jahre ist er von einer Lokalzeitung als der zweit- oder wenigstens drittbeste Schuster der Stadt ausgezeichnet worden. Die Urkunden sehen alle gleich aus, außer daß die älteren zu verbleichen beginnen, die Farbe der großen Zahl 2 bzw. 3 jedes Jahr eine andere ist, und die im selben Verlag erscheinenden Zeitungen, welche jede Urkunde allesamt aufzählt, über die Jahre immer mehr werden. An der Wand neben mir hängen Dankschreiben mehrerer Institutionen für Spenden, vor allem von einer Grundschule: ein Foto zeigt eine lachende Kindergruppe.

Der Schuster bewegt sich in seinem Teil des Ladens ständig umher, zwischen herumstehenden und -liegenden schwarzen und braunen Schuhen sowie einigen Gerätschaften, die alle zwar gut in Schuß, aber antiquiert wirken, vielleicht nur weil sie größtenteils aus Holz sind. Einige sind womöglich bloß Dekoration. Da steht auch ein Holzstuhl; an einem andern Tag hatte ich ihn durchs Schaufenster darauf sitzen sehen, ein Buch in den Händen und die gestiefelten Füße auf der Theke. Jetzt bewegt er sich wie gesagt hin und her. Über Hemd und Jeans trägt er eine Lederschürze, die ihm vom Hals bis unter die Knie reicht. Er ist nicht besonders groß, hat kurze braunblonde Haare und einen blonden Schnurrbart; in seinem gegerbten Gesicht, das er im Gespräch immer wieder zusammenknautscht, sitzen kleine wache blaue Augen. Seine Hände wirken kräftig und schmutzig. Er spricht in vielen kurzen, klaren Sätzen, und sein Gesicht, immer in Bewegung, macht kurze, deutliche Ausdrücke, und er empfiehlt dem Herrn noch einen der Absatzschoner für dessen Frau.

Als der gegangen ist, wendet er sich mir zu und sagt gleich, mich kenne er doch. Tatsächlich, vor mehr als einem Jahr war ich auf meiner Reise hier vorbeigekommen, und er hatte einen meiner Schuhe repariert. Ich zeige, daß ich sie jetzt trage und der reparierte Schuh noch gut ist; diesmal bringe ich die Schuhe einer Freundin, die Sohle hat sich gelöst. Er nimmt die Schuhe, schaut und sagt, sie würden nächsten Dienstag fertig sein. Der billige Kleber sei bei dieser Art von Schuhen ein typisches Problem. Er geht zu einem anderen Paar Frauenstiefel, das gerade über eins seiner Geräte gestülpt ist, und reißt mit einem Mal die Sohle davon ab: „Siehst du?“. Dann beginnt er, Klebstoff auf den Stiefelstumpf zu streichen, während wir uns unterhalten.

Ach ja, aus Deutschland sei ich. Er hat im letzten Jahr eine deutsche Frau kennengelernt, und sie werden im kommenden Jahr heiraten. Sie lebe seit sechzehn Jahren hier in Kanada, aber ihre Eltern, also seine künftigen Schwiegereltern, seien noch in Deutschland und kämen nächste Woche und über Weihnachten zu Besuch. Er sei schon sehr gespannt. Sie kommen aus Norddeutschland; ich empfehle ihm, Grünkohl zu machen, falls er denn koche. Oh, er koche sehr gerne und viel, er sei der Koch in der Beziehung, seine Zukünftige koche nicht. Aber sie sei großartig, eine wunderbare Frau, und sehr hübsch. Er geht nach hinten und kommt mit einem Bild einer etwa vierzigjährigen Blondine zurück. Ich bestätige, daß sie hübsch ist, und erinnere mich, daß er mir letztes Jahr ein Foto seiner Teenager-Tochter aus erster Ehe gezeigt hatte: und ja, dort rechts im Regal steht auch dieses Bild noch, ein hübsches Mädchen mit dunklen Locken am Ende der Pubertät, mit einem sehr breiten Foto-Lächeln.

Ich versuche ihm ein Grünkohl-Rezept zu beschreiben, während er weiter Kleber auf den Stiefeln verteilt und zwischendurch nach jedem Passanten den Kopf wendet; die meisten grüßen winkend durchs Schaufenster, und er lächelt und winkt zurück. Wo er die Frau denn kennengelernt habe?, frage ich. In der Kirche, sagt er. Er läuft weiter umher und sagt schließlich, er brauche jetzt noch einen Kaffee, nimmt einen viertelvollen Becher mit, wir gehen hinaus und verabschieden uns voneinander. Er schüttet den Kaffeerest auf den Bürgersteig, geht am nachbarlichen Laden für Haustierzubehör vorbei und schlüpft dann grüßend durch die helle Tür zum Friseur, wo ich ihn noch im Hinterzimmer verschwinden sehe.

In der Woche drauf hole ich die Schuhe meiner Freundin ab, die unterdessen versucht hatte, die Reparatur telephonisch per Kreditkarte zu bezahlen – aber vergebens, er nimmt nur Bargeld. Er erzählt mir gleich, daß sie eine sehr schöne Stimme habe, und er habe sie sich anhand dieser Stimme sofort ganz vorstellen können, sie sei sicher toll und ich solle sie mal sehr gut behandeln. Sie sei sicher was Besonderes. Viele nordamerikanische Frauen seien leider nicht so gut. Die meisten. Er sei durch mit nordamerikanischen Frauen. Die meisten seien so egoistisch und oberflächlich: nur an materiellen Dingen interessiert. Seine Tochter hatte seit Jahren versucht, ihn zu verkuppeln, und zuletzt wollte sie, daß er sich auf Dating-Websites anmeldet – er lacht, sie meine es ja gut mit ihm, aber er habe wirklich kein Interesse gehabt, ein Jahrzehnt lang nicht, an diesen egozentrischen nordamerikanischen Frauen. Seine erste Ehefrau sei genauso gewesen. Meine sei sicher anders, das habe er an der Stimme gehört. Und seine neue, die aus Deutschland, die sei ganz wunderbar. Findet das die Tochter denn auch?, frage ich, Oh ja, platzt es aus ihm, die beiden verstünden sich großartig. Und das freue ihn am meisten, weil seine Zukünftige auch sehr gläubig sei, und das sei das Beste daran, sie könnte für seine Tochter auch eine spirituelle Führerin werden.

Die Schwiegereltern seien jetzt da und mit denen laufe es auch wunderbar. Er hat schon einiges gekocht, aber keinen Grünkohl. Nächstes Jahr werde er dann auch zum ersten Mal nach Deutschland fliegen.

Ich erzähle davon, auf welchen Erden die von ihm reparierten Schuhe herumgelaufen sind. Als ich die große Gastfreundschaft im Iran erwähne, erzählt er: Vor Jahren sei mal ein iranisches Paar bei Freunden von ihm zu Gast gewesen, und das Paar war erstaunt, wie freundlich die Menschen hier waren, und wie kultiviert, nicht die Barbaren, als die wir in deren Propaganda dargestellt werden. Und umgekehrt, sage ich; ja natürlich, sagt er. Das sei ja das Gute am Reisen, daß solche Vorurteile abgebaut werden, sagt er. Und: „Für die sind wir ja die Ungläubigen.“ Er fragt mich, ob Deutschland eigentlich mehr protestantisch oder katholisch sei, aber da tritt gerade der nächste Kunde ein, und ich sage, das sei sehr gemischt, und genauer gesehen ein ziemlich kompliziertes Thema.

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