Yasmin Alinaghi
Mauerfall
Goa, Indien, Juni 1968
„Trevor! Kommst du endlich? Großvater wartet!“, rief Nana ungeduldig von der Veranda. Nana war Trevors Großmutter und sehr stolz auf ihren Enkel. Sie versuchte seit zehn Minuten, zum Gottesdienst aufzubrechen. Die Nachbarn erwarteten sie unruhig im Schatten des großen Pimpletrees am Fuße der Straße, die zur Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit hinaufführte.
Wie in allen Gemeinden im indischen Goa gehörte der Kirchgang auch in dem kleinen Ort Badem im Norden des Bundesstaats zum sonntäglichen Ritual. Die christlichen Missionare hatten während der über vier Jahrhunderte andauernden portugiesischen Kolonialherrschaft ganze Arbeit geleistet. Daran änderte auch die Unabhängigkeit Goas im Jahre 1961 nichts; weder die Kirchen noch der römisch-katholische Glaube waren aus Goa wegzudenken.
Trevor beeilte sich. „Sofort Großmutter“, rief er, flitzte aber schnell über die Veranda hinter das Haus. Er wollte geschwind nach Speedy schauen. Speedy war eine Sternschildkröte – seine Sternschildkröte – und sein Ein und Alles. Die gelbe sternförmige Zeichnung des Schildkrötenpanzers fand er wunderschön. Aber Speedy war nicht nur wegen der schönen Maserung ihres Panzers oder ihrer beachtlichen Größe Trevors Lieblingsschildkröte. Immerhin maß sie 38 Zentimeter! Sondern aufgrund einer Besonderheit, die ihm eine weitere Verspätung und deshalb mächtigen Ärger mit Nana einbringen würde.
Natürlich erreichten Sternschildkröten nicht annähernd die Ausmaße ihrer riesigen Artgenossen auf den Galapagosinseln, von denen Onkel Paul behauptete, dass sie bis zu einem Meter groß wurden. Aber Speedy übertraf Lazy und Boy, seine beiden Weichschildkröten, um fast 20 Zentimeter. Trevor hatte für die Schildkröten im Hof hinter dem Haus ein kleines Gehege mit Gesteinsbrocken abgegrenzt. Nana schimpfte zwar bei jeder Gelegenheit über die schrumpeligen Viecher, aber er hatte Großmutter mehrfach dabei beobachtet, wie sie seinen Lieblingen heimlich Salatblätter und Gemüse zusteckte. Er hatte drei Reihen Steine übereinandergestapelt und so eine niedrige Mauer errichtet. Lazy und Boy blieben brav hinter der Steinmauer, badeten in einer roten Plastikwanne und aßen langsam und genussvoll den frischen Salat, mit dem Trevor sie täglich fütterte. Na ja, Lazy bewegte sich sowieso so gut wie nie. Aber Speedy machte sich jeden Morgen auf zur selben Erkundungstour. Sie durchquerte das Steingehege, erklomm an der immer gleichen Stelle die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite der Steinbrüstung herunterplumpsen. Landete sie auf ihren vier schrumpeligen Beinen, setzte sie ihren Weg unbeirrt fort; einmal durch den ganzen Hof und wieder zurück über die Steinmauer, diesmal an einem flacheren Mauerabschnitt, den sie mühelos überwinden konnte. Wenn Speedy aber auf den Rücken fiel, dann schaukelte sie auf ihrem Panzer hin und her, zog Kopf und Gliedmaßen ein und wartete geduldig, bis Trevor kam und sie umdrehte. Sie schien keinen Zweifel an ihrer Rettung zu haben, jedenfalls ließ sie keinerlei Zeichen von Unruhe erkennen. Wenn sie wieder auf die Beine gestellt wurde, setzte sie ihren Weg fort. Es war dieser Unternehmungsgeist, der sie zu Trevors Lieblingsschildkröte machte.
Der Hof und das Gehege lagen zwar im Schatten, aber er wollte nicht riskieren, dass Speedy ihren Bauchpanzer zu lange der Hitze aussetzte und möglicherweise austrocknete. Daher schaute er nach ihr, bevor er Großmutter in die Kirche begleitete. Ein Blick in den Hof zeigte, dass Speedy heute keine Hilfe benötigte. Sie hatte den „Mauerfall“ unbeschadet überstanden und war richtig herum gelandet. Schnell lief Trevor nach vorne auf die Veranda, wo Nana schimpfte: „Und wehe, du hast dir deinen Sonntagsanzug bei diesen Viechern verdreckt.“
Lazy und Boy waren ein Präsent von Onkel Paul. Er arbeitete früher als Seemann und hatte die beiden Schildkröten vor drei Jahren aus Sri Lanka mitgebracht. Inzwischen fuhr Onkel Paul nicht mehr zur See. Jetzt sang er im Kirchenchor.
Speedy hingegen war das Geschenk eines englischen Hippies. Trevor hatte Phil am Strand von Calangute kennengelernt. Seit einiger Zeit wurden die Badestrände im Norden Goas, auch in der Umgebung von Trevors Heimatstadt, Badem, von diesen halbnackten, langhaarigen Aussteigern bevölkert. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als Großvater Gabriel vom Fischen zurückkam und der ungläubig staunenden Familie von den Hippies erzählte. Die sonnen- und hirnverbrannten Europäer campten in bunten Zelten an der bisher menschenleeren Küste, wo sie die Nächte durchtanzten und Drogen rauchten. Seit diesem denkwürdigen Tag fuhr die Großfamilie regelmäßig nach der Sonntagsmesse an den Badestrand von Calangute, um die nackten Spinner zu bestaunen. Dieses besondere Vergnügen gehörte inzwischen ebenso zum sonntäglichen Ritual wie der Gottesdienst selbst.
Am liebsten fuhr Trevor auf dem Motorrad von Onkel Paul mit an den Strand. Aber Nana bestand meist darauf, dass er im Auto seines Großvaters mitfuhr. Nur wenn der weiße Ambassador voll besetzt war, und das kam in der Großfamilie häufig vor, drückte sie schweren Herzens ein Auge zu. So kam Trevor in den Genuss einer rasanten Fahrt auf der Royal Enfield seines Onkels.
Die Hippies gerieten jedes Mal völlig aus dem Häuschen, wenn sie den Ambassador oder die Bullet 500 sahen. Sie umkreisten die Gefährte wie einen heiligen Schrein, deuteten hierhin und dorthin und diskutierten durcheinander. Trevor wunderte sich über das Interesse der Aussteiger. Immerhin schienen die Europäer reich zu sein, denn sie konnten sich kaufen, was sie wollten, und die Fahrzeuge von Großvater Gabriel und Onkel Paul waren alt und nichts Besonderes. Oder doch?
Phil, der englische Hippie, trug Speedy immer in einer roten Plastikwanne mit sich herum. Jener Wanne, in der heute Trevors Schildkröten badeten. Eines Sonntags, als Trevor mit seiner Familie am Strand picknickte und Nana erbittert über einen dieser verlotterten Aussteiger im Stringtanga schimpfte, döste Phil völlig bekifft unter einer Palme vor sich hin. So bemerkte er nicht, dass Speedy aus der Plastikwanne ausbüchste und sich Richtung Meer aus dem Staub machte. Trevor brachte ihm das abenteuerlustige Tier zurück. Phil bedankte sich überschwänglich bei ihm und erzählte eine verworrene Geschichte über eine Schildkröte namens Kassiopeia, die sein Freund Michael erfunden hatte. Sie kehrte durch ihre Langsamkeit die Zeit um, besiegte graue Männer und würde eines Tages bestimmt weltberühmt werden.
Eines Sonntags wartete Phil weniger zugekifft als üblich auf Trevor. Er berichtete betrübt, dass er nach England zurückkehren müsse. Sein alter Herr, ein Großindustrieller, bestehe auf seiner Rückkehr. Es werde Zeit, in den väterlichen Betrieb einzusteigen. Zu Hause erwarteten ihn eine Entziehungskur – und die dicke Peggy, die er schon seit seiner Kindheit fürchte und die ihn heiraten wollte. Phil wirkte alles andere als begeistert und bat Trevor verzweifelt, sich gut um Speedy zu kümmern.
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