Dierk Seidel
Im Leerlauf oder die Neonlichter der Gedanken
Im Jahr 1999 fuhr ich in einer Holzachterbahn mit. Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir langsam nach oben gezogen wurden. Ganz oben brauchte unser Wagen einen Moment, ehe es mit einer berauschenden und zum Schreien anregenden Geschwindigkeit nach unten ging. Zu Beginn hatte ich das Gefühl, die Abfahrt sei so steil, dass man nicht nach vorne fährt, sondern nach hinten ins Innere des Holzkonstrukts hinein. Nur eine Täuschung, eine Illusion. Dieses Gefühl habe ich nie wieder erleben dürfen. Und trotzdem muss ich an diesen Moment denken, als ich mit meinem Fahrrad vom Ortskern in Altenberge den Berg hinab Richtung Bahnhof düse.
Dieser Text sollte eigentlich ein Gedicht werden. Das geht nun nicht mehr. Und ich schiebe die Gedanken an Metrik und Reimschema in einen Karton, ein Schuhkarton, und schiebe ihn in die Ecke meines Zimmers. In dieser Ecke sind schon viele Kartons. Man müsste sie einfach zerkleinern, dann wäre die Ecke auch wieder etwas ansehnlicher.
Vor Kurzem hörte ich ein Lied, welches du in einem Theaterstück mal rezitiert hattest. Vor drei Monaten haben wir uns das letzte Mal geschrieben. Du antwortest nicht. Ich mache mir Sorgen. Frage mich, ob es dir gut geht.
Es leuchtet. Die Neonlichter in meinem Kopf sind grell. Zu hell, um klar zu denken, der Kopf blendet sich selbst.
Gestern Abend bei einer Lesebühne gelesen. Die Scheinwerfer so hell, dass niemand vorne das Publikum sehen konnte. Und dennoch war ich mir sicher, dass es ein aufmerksames und wertschätzendes Publikum war. Ich sehe dennoch lieber die Menschen, zu denen ich spreche.
Dieser Text sollte eigentlich ein Gedicht werden. Das geht nun nicht mehr. Dieser Text ist kein Gedicht.
Laufe ohne Kontrolle, die Beine drehen sich im Kreis, wie in einem Cartoon und am Ende der Straße bleib ich abrupt stehen, denn die Scheinwerfer eines Sattelzugs, der vor einem Bahnübergang steht, blenden mich.
Neon die Lichter, neu die Gedanken, ein Zug kommt von rechts, wird der Zug?
Er bricht das Licht. Dunkelheit. Ich trete rückwärts in die Pedale. Im Leerlauf, komme nicht an. Stillstand.
Dieser Text ist kein Gedicht. Der Zug ist weg, der Sattelzug ist auch verschwunden, alles ist einsam und leer.
„Was?“, fragst du.
Und ich sage: „Wer.“