Malte Klingenhäger

Herr Malte

Weil ich die nötige Kompetenz mitbringe, ein großartig altruistischer Mensch bin und all das akkumulierte Wissen nicht ungenutzt dahinvegetieren sollte – aber eigentlich bloß, weil die Bezahlung echt in Ordnung geht – leite ich die AG Geschichten Schreiben für die 5. Klassen einer Gesamtschule. Dort hocken die lieben Kleinen meist zu zwölft im großen Hufeisen tippend vor ihren PCs und flüstern ihre Gehässigkeiten. Ich lasse sie ihre eigenen Storys schreiben, helfe häufig – aber nur, wenn es hakt – und lasse mich von der durchaus hohen Qualität ihrer Werke beeindrucken.

05-2016-malte-klingenhaeger-kurzgeschichte-herr-malteWenn sie einmal Scheiße bauen, beschränkt sich das meist auf das Hochsetzen der Schriftgröße. Ganz Wilde ändern ihre Textgröße schon mal auf grellgrün, nutzen ein Schriftverformungstool oder schreiben in Weiß auf Weiß und lassen mich dann raten, was sie geschrieben haben. Wenn ich antworte, dort stünde ‚Malte ist doof‘, schauen sie mich für einen Augenblick so ertappt an, als könne ich Gedanken lesen. Alles in allem also nichts, was eine autoritäre Sau wie mich beeindrucken könnte. Allerhöchstens Anekdötchen, kaum wert, vor einem größeren Publikum dargelegt zu werden. Fast.

Es gab da diesen einen Tag, da haben sie ich durchgespielt und mir auf die subversivste Art, die nur Kinderherzen möglich ist, die Kontrolle entzogen. Eine Abfolge von Geschehnissen, die ich nicht erzählen will, um euch zu unterhalten, sondern die ich erzählen muss, um sie zu verarbeiten. Ein Mittwoch. Genauer: der 16. Dezember 2015, die letzte AG Stunde vor den Weihnachtsferien.

Es begann mit einem: „Herr Malte?“, von Josepha. So nennt sie mich immer. Sie ist wie … Gandhi. Als sie mich das erste Mal Herr Malte rief, haben ihre Mitschüler und ich sie ignoriert. Als sie es wieder tat, wurde sie von ihrer Klasse dafür ausgelacht. Als sie sich davon ebenfalls nicht beirren ließ, wurden die anderen wütend und haben sie ausgeschimpft, doch auch das ließ sie kalt. Inzwischen nennen sie mich alle so. Es fängt also wie folgend an:

„Herr Malte?! Kannst du mal kommen?“

„Ja, Josi?“

„Gibt es auf Borneo Orang-Utans?“

„Das weiß ich nicht, Josi.“

„Und Regenwald?“

„Ja, da bin ich mir sicher.“

„Wieviel ist denn noch übrig?“

Da bin ich überfragt, also watschel ich zu ihr und schaue über ihre Schulter auf ihren Monitor, während sie mir erklärt, was ich für sie recherchieren muss. Und während ich mit ihr über ihren Text spreche, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie mich Vanessa, die neben Josi sitzt, aus ihrem runden Gesicht verschmitzt angrinst. Das Problem ist, sie grinst nicht mich an, sondern meinen Hals. Das irritiert mich sehr, also frage ich: „Alles in Ordnung, Vanessa?“

„Duhuuu? Herr Malte?

„Ja, Vanessa?

„Wie groß … wie groß ist eigentlich dein Granatapfel?“

„Du meinst meinen Adamsapfel?“

„Ja, ist doch egal!“

„Schnubbel, ich weiß nicht, wie groß der ist, ich habe den nie gemessen.“

„Aber Männer messen doch alles?“

Huh, denke ich, was soll ich denn dazu sagen? Hat die Kleine gerade … Aber zum Glück spricht sie weiter: „Also mein Papa, der misst ständig irgendwelche Sachen!“

Gottseisgelobt. Keine Reaktion war die richtige Reaktion. Abwarten und Ablenken, so auch jetzt, als ich die Kinder wieder an die Arbeit schicke und mich an einen PC dazwischen setze, um Borneo, Regenwald und die Schreibweise dieser verdammten Orang-Utans zu googlen. Wir haben die Outlines von Josis Story grade zusammen, da ist Vanessa das Schreiben schon wieder zu langweilig geworden und sie beginnt zu erzählen.

„Herr Malte?! Wir fahren diesen Freitag mit der ganzen Familie zu meiner Oma!“

Ich stehe auf und bereite mich vor, mit tiefster Stimme und höchster Autorität auf eine angemessene aber bestimmte Art darauf hinzuweisen, dass mir scheissegal ist, was sie am Freitag macht, mir aber wichtig ist, dass sie jetzt schreibt, doch sie ist noch nicht fertig.

„Wir fahren dahin, um meine Oma zu trösten, weil meine Oma und mein Opa, die haben sich getrennt!“

Bevor ich jetzt irgendetwas sagen kann, tönt es schrill und mit maximalem Entsetzen von einem Mädel auf der anderen Raumseite: „Omis und Opis können sich trennen?!“

Ab jetzt versuche ich meiner Aufgabe gerecht zu werden, die Welt zu erklären und die Kontrolle zu bewahren, werde von den Schülern aber spielend abgehängt. Ich erkläre jedenfalls, dass man auch im hohen Alter feststellen kann, dass man sich nicht mehr liebt und sich dann eventuell trennt.

„Nein, Nein“, sagt Vanessa. „Die haben sich getrennt, weil mein Opa schwul ist!“

So langsam dämmert mir, dass dies keine normale Stunde wird.

„Hä? Aber warum war der dann mit deiner Oma zusammen?“, fragen die Mädels auf der anderen Seite. Ich erkläre, dass Sexualität nicht statisch ist und sich im Laufe eines Lebens auch ändern kann, was viele halt nicht wissen.

„Nee“, sagt Vanessa, „mein Opa war schon immer schwul, deswegen hat er meine Oma auch seit zehn Jahren mit seinem Freund betrogen!“

Dazu kann ich auf die Schnelle erstmal nichts wertiges beitragen. Also bitte ich um Ruhe und schicke die Kids wieder an die Arbeit. Das Thema ist auch erst einmal gegessen, alle schreiben brav weiter, ich setzte mich wieder dazwischen und suche eine Grafik zum Regenwaldschwund auf Borneo, die ich später daheim für Josi zwecks Bebilderung nachbasteln kann. Während wir so arbeiten und selbst Vanessa ich zu konzentrieren scheint, fragt Josi mich, was heute Morgen in meinem Adventskalender gewesen sei.

„Eine Praline“, antworte ich und freue mich, dass wir ein so unverfängliches Thema gefunden haben.

„Von wem hast du denn deinen Adventskalender bekommen?“, hakt sie nach.

„Von meinem Vater“, sage ich, aber anscheinend nuschel ich und Josi fragt nach: „Von deinem Freuheeeund?!“ An dieser Stelle muss ich einmal meinen Stolz über diese Schülergruppe kundtun: Die Option, dass ich eventuell schwul sei, war keine große Sache. Die Frage wurde von der gesamten Truppe gehört und hat nicht für eine einzige aufmerksam hochgezogene Augenbraue gesorgt. Wie wir gleich aber hören werden, sind sie nicht in Bezug auf meine gesamte Lebensssituation so tolerant. Zunächst aber muss ich dieses, wenngleich sehr schmeichelhafte Missverständnis – denn ich finde jetzt nicht, dass ich soooo gepflegt aussehe – auflösen. Darum wiederhole ich: „Nein, ich habe den Kalender von meinem Vater!“

„Du wohnst noch bei deinem Vater?“, fragt Vanessa.

„Nein“, sage ich, „der kam extra nach Münster und hat ihn mir gebracht.“

„Das ist aber lieb“, findet Josi und ich stimme ihr zu.

„Aber … du hast eine Freundin, oder?“, fragt Vanessa.

„Nein, derzeit nicht“, antworte ich und beiße mir fast sofort auf die Zunge. Als Belohnung für meine Offenheit ertönt aus der kleinen Gruppe Jungs, die auch mitschreibt und sich jetzt doch mal am Gespräch beteiligen will, der wahrscheinlich beste Satz, den ich je gehört habe, ja den ich mir am liebsten in großen Lettern über das Bett hängen würde: „DU hast keine Freundin? Aber du bist doch SCHRIFTSTELLER!“

Da bin ich erstmal baff und grinse debil vor mich hin. Meine Überforderung ist auch völlig schnuppe, denn das Gespräch geht fluffig ohne mich weiter.

„Also ICH hatte schon FÜNF Freunde!“, verkündet Vanessa.

„Ja, weil du immer sofort mit denen Schluss machst!“, halten die Jungs hämisch dagegen.

„Aber … aber du hattest schon mal ’ne Freundin, oder?“, fragt mich Josi vorsichtig und jetzt bin ich schon etwas beleidigt. ABER SOWAS VON, will ich schreien, aber gottseisverdammtnochmal werde ich mich nicht vor einer 5. Klässlerin für mein Leben rechtfertigen!

„Ja, aber jetzt grad halt nicht“, sage ich zerknirscht und sorge wieder für Ruhe und emsiges Getippe. Das klappt gut, sie sind wirklich recht fügsam und fleißig an dem Tag – vielleicht hat sich die Gleichung ‚Braves Betragen = Von Geschenken erschlagen‘ tatsächlich in Ihre Köpfe gebrannt und ihr Fleiß ist den Bemühungen der Vorweihnachtszeit geschuldet, einen guten Eindruck zu machen. Das würde auch erklären, warum Josi jetzt aufsteht und langsam zu mir schlurft. Sie legt mir sanft die Hand auf die Schulter und fragt mitfühlend: „Malte? Malte … bist du dann manchmal einsam?“

„Nein, alles in Ordnung“, sage ich. Niemand im Raum sagt was, alle starren auf ihre Bildschirme, nur tippen tut keiner mehr. Ich weiß nicht, was sie sich vorstellen. Vielleicht, dass ich an Heiligabend mit kalten Dosenravioli vor einem Plastikweihnachtsbaum sitze, ein Teelicht zu meiner Rechten und eine Flasche Korn zu meiner Linken und mich über irgendetwas zu freuen versuche, dass ich mir selbst geschenkt habe.

„Aber mit wem feierst du Weihnachten?“, fragt Josi verzweifelt.

„Mit meiner Familie, genau wie du. Aber jetzt muss ich mich hier mal wieder um Borneo und so – schreib mal weiter!“, bestimme ich und gestikuliere hilflos. Josi setzt sich wieder hin. So ganz zufrieden sind sie alle nicht mit mir, dass kann ich spüren, aber es dauert noch etwas – ich sitze inzwischen wieder am Pult und denke über mein Leben nach – da ruckt Carlas Kopf hoch.

„Herr Malte?“, beginnt sie. „Welche Lehrerinnen an der Schule kennst du so?“

Ich weiß, was jetzt kommt und da ich die Stunde ohnehin etwas früher beenden will und ich nicht nur großartig unterhalten wurde, sondern alle auch so erstaunlich fleißig waren, lehne ich mich zurück und lasse es einfach geschehen.

„Ich kenne nur die, die vor mir hier im Raum ist, ich glaube, mit Sozialkunde oder so“, antworte ich wahrheitsgemäß.

„Ah, neee, Frau Rossmann nicht. Die ist nett und die gibt gute Noten, aber ihr Unterricht ist totlangweilig“, klärt mich Vanessa auf. Was langweiliges soll sie mir ja auch nicht beibringen, denke ich, halte aber selbstverständlich die Klappe und genieße stattdessen, wie die Kids sich jetzt untereinander beratschlagen, wer denn ein passendes Match für mich wäre. Kinder statt Tinder, denke ich mir und schüttel belustigt den Kopf. Sie einigen sich derweil auf irgendeine Sportlehrerin.

„Die ist voll nett und hübsch. Aber wenn sie geht, dann zuckt die manchmal so“, erklärt Carla und macht das Ganze gleich einmal vor.

„Die hat einen Tick, so heißt das, aber die ist ok“, bestätigen die Jungs und in einem seltenen Moment der Verbundenheit stimmen die anderen zu. Dann werden noch ein paar ‚Optionen‘ angesprochen, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Ich glaube, dass ich kurz darauf die Stunde beendet und alle mit dem Wunsch auf tonnenweise Geschenke und eine schöne Weihnachtszeit entlassen habe. An was ich mich allerdings noch deutlich erinnere, ist, wie ich dann dort saß, im leeren Raum. Allein, auf dem Lehrersessel am Lehrerpult vor dem Lehrercomputer, in stiller Einkehr und noch mindestens fünf regungslose Minuten, in denen ich diese Stunde das erste Mal rekapituliert habe, um herauszufinden, was zum Henker da eigentlich passiert ist. Oder wie Josi mir vor kurzem aufmunternd sagte: „Läuft bei dir, Herr Malte.“

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