Malte Klingenhäger
Freiheit in 839 Grenzen
Die Verfassung schützt, die USA verteidigen, die Werbung verspricht und wir alle schätzen sie: die Freiheit. Trotzdem scheint der Kampf um sie kein Ende zu nehmen. Ich traf noch nie irgendjemanden, der oder irgendetwas, das frei gewesen wäre. Ich bin da keine Ausnahme. Aus erster Hand könnte ich euch über Freiheit nicht viel Wertiges erzählen. Ich glaube, Freiheit ist ein unkontrollierbarer weil absolut gradueller Begriff. Alles und jeder ist höchstens relativ frei.
Grenzen! Grenzen sind eher mein Thema. Ich, beschränkt auf einer und auf eine Bühne, bin Experte für Grenzen. So wie ihr alle auch. Ihr scheut euch höchstens noch, es euch einzugestehen und über diese Hürde möchte ich euch heute hinweghelfen. Gerne lass ich euch an diesem mir ach so teuren Wissen teilhaben und keine Sorge, die Zeche zahlt mein Sendungsbewusstsein.
Grenzen sind meist dynamisch, nur in der Momentaufnahme starr. Selbst wenn sie Naturgesetz sind, ist davon auszugehen, dass es ein weiteres gibt, mit dem man dem ersten ein Schnippchen schlagen kann. So wie die Schwerkraft: von Bodenständigen geliebt, trotzdem immer wieder überwunden und irgendwann sogar genutzt, um Satelliten noch viel weiter in den Raum zu schleudern. Selbst Atome spalten wir und gehen schon lange nicht mehr davon aus, die größten und kleinsten Bausteine dieser Welt zu kennen. Auf viele Grenzen haben wir direkten Einfluss und üben diesen mal mehr, mal weniger bewusst aus. Wir treiben Sport, um uns selbst zu formen, treiben Tunnel durch Berge, um uns häufiger zu sehen, treiben es miteinander, um unsere Form weiterzugeben.
Wir hassen es, wenn wir an unsere Grenzen stoßen und sind doch von Grenzkontrollen mindestens ebenso besessen wie von der Freiheit. Wir erfreuen uns an Figuren und Formen und schaffen ständig neue, selbst wenn sie außer einer rein ästhetischen keine weitere Funktion haben. Auch wenn es so viele Grenzen werden, dass wir sie ohne Hilfsmittel gar nicht mehr erkennen können, dann reizt uns das, denn wir wissen ja, dass sie da sind: ein Farbverlauf beispielsweise. Wir müssen uns selbst immer wieder aufs neue bündeln, abgrenzen, bevor wir von einem ‚Ich‘ sprechen können. Ohne das gäbe es kein ‚wir hier‘ oder ‚die dort‘. Die Bühne, auf der ich stehe, grenzt mich von euch ab, mein Apell an ‚uns‘ fordert das ‚wir‘ dann wieder ein, schließt aber alle anderen aus. Das stört uns nicht, kommt es uns doch absolut natürlich vor.
Grenzenlos, das wäre schließlich alles und nichts und damit eine der wenige Beschreibungen von etwas Übernatürlichem, Überirdischen, mit der ich etwas anfangen kann, weil sie mir erklären würde, warum ich es nicht wahrnehme. Was keine Grenzen hat, das sehen wir nicht, fühlen wir nicht, hören wir nicht.
Wir denken in Grenzen. Sprache ist ein Ausgrenzungssystem: Ein Tisch ist ein Tisch, weil er kein Stuhl ist. Schlagen ist nicht treten oder streicheln, lecker wird Ungenießbares nur dann, wenn wir Oma nicht verärgern wollen. Die Definition des Verbs ‚definieren‘ ist Abgrenzung. Alles, was wir sind und haben, ist Grenze. Das macht Freiheit zu einer zwar durchaus sympathischen Richtung, aber einem ungemein frustrierendem Ziel.
So fällt es uns schwer, die Freiheit zu lieben und Grenzen zu hassen. Wir können nicht ohne Abgrenzung, wollen das aber und das überfordert uns. Kein Wunder, dass wir uns hin und wieder verzetteln und Angst bekommen, wir könnten die Kontrolle verlieren. Dann ziehen wir uns lieber ins Private zurück, wickeln uns eng in behagliche Gewohnheitsdecken und verschanzen uns hinter kleinen Mauern und abgesperrten Grünflächen – oder wir gehen in die Offensive, versuchen die Welt zu umarmen und lenken uns mit der Illusion von Freiheit in Form von 7 verschiedenen Waschmitteln im Supermarkt ab. Entscheidungsfreiheit – keine Verantwortung lastet so schwer auf dem westlichen Individuum. Was soll ich nur werden? Was soll ich nur machen? Wer gibt mir eine Anleitung für diese Welt, ohne das ich mich gleich fremdbestimmt fühle? Rette mich, lass mich, wasweisich?
Ich würde diese Widersprüche gerne auflösen, aber das kann ich nicht. Ich kann meine eigene Begrenztheit allerdings akzeptieren, meinen Frieden mit ihr schließen. Die resultierenden Fragen sind viel spannender und ein hervorragender Stabilitätstest für alle von Menschen erschaffenen Grenzen. Und wenn wir wissen, dass es für uns immer eine Grenze gibt, das wir immer heimlich Sehnsucht nach weiteren Grenzen verspüren werden, hinter denen wir uns vor der Freiheit verstecken können, dann werden wir vielleicht mutig genug sein, einige aufzugeben und in andere aufgehen zu lassen. Wer wäre nicht gerne Fliege an der Wand eines NPD-Parteitages, der plötzlich nur noch das Wort ‚Mensch‘ kennt. Aber wahrscheinlich entdeckt unsere Spezies ihre große Weltgemeinschaft erst dann, wenn eines Tages Außerirdische an unsere Tür klopfen und man sich mit einem WIR von DENEN und ihren seltsamen Tentakeln abgrenzen möchte.
Vielleicht lernen wir aber auch neu, mit Grenzen umzugehen und bleiben unserer beschränkten Natur einen kleinen Schritt voraus, indem wir sie uns bei jeder Entscheidung bewusst machen. Vielleicht schmunzeln ja doch einige mit mir, wenn Sätze fallen wie: „In meinen eigenen 4 Wänden bin ich frei und das soll auch so bleiben!“ Und dann schauen wir uns an und denken, WIR haben den Witz verstanden, DIE noch nicht.
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