Sarah Chiyad
Entscheidung
Plötzlich gibt es mich zwei Mal. Das eine Ich, das gerade eben zerzaust und mit tränenden Augen in die Küche geschlichen kam und das zweite, das unterhalb der Schultern aufhört und wie die Perversion einer antiken Büste auf der geblümten WG-Tischdecke drapiert ist. Eigentlich hätte ich damit rechnen, mir eine Strategie zurechtlegen müssen. Aber ich stehe nur da und kratze meinen Morgendutt, der wie ein Betrunkener hin und her schwankt.
Mein zweites Ich gleicht mir bis aufs Haar. Sogar der Pickel, den ich erst vor einer Minute im Badezimmerspiegel entdeckt habe, ist da direkt unter dem Haaransatz zu sehen. Auch die Augen sind gut getroffen, finde ich. Das linke ist originalgetreu etwas kleiner als das rechte, beide schimmern moorwassergrün. Ein leichter Feuchtigkeitsfilm liegt über den unteren Lidern. Eine bemerkenswerte Kopie.
Eigentlich sollte ich den Boden fegen. Aber ich laufe nur im Kreis um den Tisch herum und biege meine Finger wieder und wieder zu Klauen, während sich Krümel und Staub an meine nackten Fußsohlen heften.
Am meisten irritiert mich die Haut, die im wolkengefilterten Licht schimmert. Die Poren und feinen Hautfältchen ziehen ein Netz oder vielmehr eine Landkarte über diesen noch nicht fertigen Körper. Die Lippen wirken rau und rissig. Und auch in meinem Gesicht kann mein Klauenfinger die trockenen Rillen ertasten.
Es schäumt in mir. Wie ein überkochender Nudeltopf bäumt es sich auf bis hin zu meinen Ohren, die im Takt meines Herzens pochen. Warum jetzt? Der Zeitpunkt ist schlecht. Das ist er natürlich immer. Die Scham treibt heißes Blut in meinen Kopf. Wie soll ich mich ansehen? Ich möchte meinen Blick abwenden, doch kann ich nicht aufhören, um das ausgestellte Stück meines Körpers herumzulaufen, so als wäre ich durch eine Kette damit verbunden.
Ein tiefer Atemzug und ich bleibe stehen. Zu meinen Füßen sehe ich die kreisrunde Raubtierbahn, die meine Schritte in den Boden geschliffen haben. Es hat keinen Zweck. Also ziehe ich einen wackeligen Stuhl an den Tisch heran und setze mich. Wir sitzen uns nun direkt gegenüber, ich und mein nicht blinzelndes Ich. Mit zitternden Fingern berühre ich den Kopf. Meine Fingerspitzen erfühlen eine unerwartete Wärme, feine Härchen und beinahe unsichtbare Narben. Sie folgen den Kieferknochen, gleiten das Jochbein entlang und treffen sich am Kinn. Von dort aus fahren sie die rauere Haut am Hals hinunter, um schließlich dort zu enden, wo Schlüsselbein und Wachstischdecke ineinander übergehen.
Um sich zu verteidigen, reicht es, zwei Finger fest in die Kuhle unterhalb des Halses zu stoßen, denke ich, als ich lustvoll mit dem Zeigefinger darüber streiche. Dann nehme ich das Gesicht des ungebetenen Gastes fest in beide Hände. Meine Handflächen pulsieren unter dem Druck. Oder ist es dieser Körper, der pulsiert? Ein Schauder durchfährt meine Arme, kitzelt meinen Nacken. Mir wird erst heiß, dann kalt. Meine Körpertemperatur scheint jedes System verloren zu haben.
Ich glaube, dass sich die Kieferknochen etwas lösen, die Stille zu zermahlen suchen, die sie gefangen hält. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bereit bin für die Worte, denen sie den Weg bereiten. Also presse ich die Handflächen noch fester in die Haut und drücke das Fleisch zusammen. Schmerz erblüht in meinem Bauch und rankt hinauf bis in die Brust, wo er mit scharfen Dornen ankert.
Beinahe leidenschaftlich ziehe ich die Kopie an mich heran, lehne meine heiße Stirn an ihre kühle. Mein feuchter Atem benetzt ihre Lippen. Fest drücke ich den vertrauten Kopf an meinen fremden, so als könnte ich mit Gewalt zurückdrängen, was so klar abgespalten vor mir liegt. Schweiß rinnt meinen Rücken hinunter, meine Zähne pressen fest aufeinander.
Da lässt mich etwas aufschrecken. Eine flüchtige Bewegung, nicht mehr als ein Runzeln, das sich über die andere Stirn zieht. Ich fahre abrupt zurück und falle beinahe zusammen mit dem Stuhl um. Einen Moment lang sitze ich mit heftigem Atem da und starre in mein abgetrenntes Gesicht.
Es ist, als habe man mich in ein Meer geworfen, das um mich herum rauscht und tost. Eine Welle formt sich in meiner Brust und entweicht als Grollen aus meiner Kehle. Wie eine Katze fahre ich mit einer klauenhaften Hand durch das Gesicht und hinterlasse tiefe Kratzer. Entsetzt beobachte ich, wie das Blut, etwas zaghaft, daraus hervorzuquillen beginnt.
Ich will fliehen. Als ich aufstehe, reiße ich den Stuhl um, der auf den Fliesen zersplittert. Ich weiche dem Stuhl aus, laufe rückwärts, um den Küchentisch im Blick zu behalten. Ich bin erleichtert, als ich die Büste nur noch im Profil vor mir sehen kann, mich ihrem Blickfeld entzogen habe. Dabei achte ich nicht darauf, wohin ich laufe und stoße gegen die Arbeitsplatte, von der nun die dort gestapelten Gläser klirrend zu Boden fallen. Nur für einen kurzen Augenblick folge ich meinen Reflexen und wende mich von der Büste ab.
Als ich wieder bei Sinnen bin und mich ihr schnell wieder zudrehe, ist es zu spät. Die trüben Augen haben sich bewegt und starren mich direkt an. Keuchend flüchte ich mich auf die andere Seite der Küche. Noch immer bin ich an den Radius gebunden, den die unsichtbare Kette mir vorgibt. Wie eine Ertrinkende klammere ich mich an die Spüle. Ihre Kühle gibt mir Halt und ich beruhige mich etwas. Was soll mir schon geschehen?, denke ich. Hat die Büste nicht eh schon die ganze Zeit zur Seite geschaut? Bei dem Licht …
Ich schreie, als sich die Augen langsam, wie bei einer elektrischen Puppe, erneut bewegen und wieder direkt auf mich gerichtet sind.
Meine Hände gleiten in die Spüle, ohne dass ich es wage, den Blickkontakt zu brechen. Hastig wühle ich darin herum und finde ein Messer. Ich umfasse die Klinge und spüre kaum, wie ich mir dabei in die Finger schneide. Warmes Blut läuft meine Handflächen hinab und tropft von den Gelenken. Dann werfe ich mich gegen den Tisch, der unter meinem Gewicht erzittert.
Ich steche auf die Büste ein, sehe die Klinge durch Haut und Fleisch fahren und spüre den Widerstand der Knochen. Der Stahl befreit eine ungeahnte Menge an Blut aus den Adern. Immer und immer wieder steche ich zu.
Schließlich lasse ich das Messer fallen und sinke zu Boden. Über Holz und Glassplitter hinweg krieche ich unter den Tisch, umfasse meine Beine und lege mich auf die Seite. Über mir strömt das Blut die Falten der Tischdecke entlang und tropft beständig hinab.
Ich beobachte die Tropfen und die Pfütze, die sie füllen. Feuchtigkeit kriecht mein Haar entlang auf die Kopfhaut. Aber ich liege nur da, unbeweglich, eins mit dem Blut, das ich vergossen habe. Jeder Tropfen, der fällt, löst eine Erschütterung aus, die ich im Boden unter mir vibrieren spüre.
Als der letzte Tropfen fällt, ist es bereits dunkel. Einen Augenblick lang spüre ich der plötzlichen Stille nach. Dann löse ich mich langsam aus der eisernen Umarmung meiner selbst und krieche unter dem Tisch hervor, wobei ich dumpf Holzsplitter in meinen Handflächen und auf meinen Schienbeinen fühle. Ich taste mich die Wand hinauf und finde den Lichtschalter. Als das Licht angeht, blicke ich auf den Tisch. Die geblümte Tischdecke hängt halb davon herab. Sonst nichts. Meine Glieder fühlen sich so leicht an, als flösse statt Blut nun Helium durch meine Adern. Ich streiche mit einer Hand über die kühle Wachsoberfläche. Vom Scheitel abwärts läuft etwas Warmes, Zartes durch meinen Körper. Und ich kann nicht anders, als zu lachen, bis meine Augen tränen.
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