Malte Klingenhäger

Die Insel

Der erste Tag meines Niedergangs beginnt mit einem Triumph: Ich finde Süßwasser. Es war gar nicht so schwer zu finden. Eine Firma vom Festland hat den Zugang zur entsprechenden Höhle netterweise weiträumig abgezäunt und – für den Fall, dass ich die rostige und teils überwucherte Konstruktion übersehe – ein fettes, rotes Warnschild angebracht, das die dahinterliegende Quelle als Privateigentum ausweist. Ich bedanke mich für diese Aufmerksamkeit, indem ich das Schild mitsamt dem Gitter herunter trete. Dann muss ich mich nur noch überwinden, in die Dunkelheit des dahinterliegenden Höhleneinganges zu kriechen, der von Wildpflanzen verdeckt im Fels des kleinen Hügels liegt. Nachdem ich knappe zwei Meter durch feinstes Guano gerobbt bin und einige Fledermäuse aufgeschreckt habe, greift meine Hand in Wasser. Ich schlürfe sofort gierig drauf los, wie ein plötzlich zu Geld gekommener Stadtstreicher, der mit seinem Reichtum nichts anzufangen weiß. Ich besitze derzeit wirklich nicht viel. Nicht mehr, als in ein einzelnes WG-Zimmer passt. Doch selbst das ist nun unerreichbar weit entfernt und was ich mitnehmen wollte, liegt auf dem Meeresgrund zwischen den Klippen der Insel verstreut, auf der ich gestrandet bin. Was mir nach dem Schiffbruch übrig blieb, trage ich durchnässt am Leib. Meine Hose, meinen Pullover, meine dünne Windjacke und glücklicherweise meine Brille. Blind auf einer einsamen Insel – so garstig wollte mich das Universum dann doch nicht abstrafen. Wofür auch? Für eine fixe Idee, die nicht einmal meine war?

Es war Ruperts. Vielleicht war er auch nur der Bote, ein Wegweiser des Schicksals. Das würde ihm nur recht sein, klingt es doch nach den markigen One-Linern, mit denen er bevorzugt kommuniziert. In unserer WG hat er sein Zimmer am längsten. Soweit ich weiß, ist er sogar der Hauptmieter. Er ist etwas älter als wir anderen, aber man kauft ihm den Studenten noch ab, auch wenn niemand seine genaue Fachrichtung kennt. Nebenbei arbeitet er in einer Schreinerei. Er zahlt pünktlich seine Miete, obwohl er manchmal wochenlang nicht da ist. Er schmeißt immer etwas in die Partykasse, auch wenn er nie mitfeiert. Den Putz-Plan hält er rigoros ein, obgleich er ohnehin der sauberste von uns ist. Häufig kocht er für alle mit und zieht sich dann doch mit seinem Teller in sein Zimmer zurück. Ab und an verkauft er uns Gras, oder, wie er es nennt, sät die Saat für zukünftige Blumenkinder, aber auf dem Balkon frieren wir immer alleine. Ein menschgewordener Vorteil ist er und grade hieraus speist sich unser tiefer Respekt vor ihm, der uns trotz dieses Nutznießens keine Schuldgefühle haben lässt. Mit so einem wie Rupert hat man kein Mitleid, man bewundert ihn. Immerhin hat er den Begriff ‚Tower of Shame‘ für die Morgenlatte etabliert, was in einer reinen Männer-WG durchaus gewürdigt wird. Ich meine, abgesehen davon, dass er ordentlich putzt. Und er kennt die abgedrehtesten Mädels – besondere Frauen halt, die immer ein wenig so aussehen, wie man sich Schauspielerinnen vorstellt. Die verschwinden zwar sofort in Ruperts Zimmer und suchen nur sehr selten das Gespräch mit uns, aber sie sichern uns die Bewunderung der anderen WGs im Haus. Rupert ist einfach unverzichtbar, was es umso schlimmer macht, dass er vor einiger Zeit verschwunden ist. Das letzte Mal sah ich ihn in einem gelb-schwarzen Bienenkostüm mit falsch angebrachtem Stachel, grade auf dem Sprung zu einer Schauspielgruppe, die im Stadtwald einen Aufklärungsfilm aus den 70ern nachspielen wollte. Dann war er fort und seither hat ihn keiner von uns mehr gesehen.

Malte Klingenhäger Kurzgeschichte: Die InselNachdem ich den ersten Durst gestillt habe, mache ich mich auf, die Insel zu erkunden. Vielleicht finde ich einen Unterschlupf oder Nahrung, was man sich halt im Übermut so wünscht, wenn der erste Triumph so leicht zu erringen war. Leider gibt es hier nicht viel. Die Insel ist klein, vielleicht 1 1/2 Kilometer lang und, wie ich bald feststelle, völlig verlassen. Sie ist felsig, mit einigen Sandflächen dazwischen, auf denen Gras und vereinzelt Sträucher wachsen. An ihrer schmalsten Stelle wird sie anscheinend regelmäßig überspült.
Meine Unterkunft finde ich in den Überresten einer alten Hütte, deren Mauern noch stehen, deren Dach aber bereits völlig zerfallen ist. Sie steht im Schatten des felsigen Hügels, der den höchsten Punkt des nördlichen Eilands bildet. In einer kleinen dahinterliegenden Bucht schwemmt die Strömung Treibgut an. Ein riesiger, doch leider leerer Metallcontainer steht dort. Allerdings finde ich hier auch eine grellgelbe Plastikplane und ein paar leere Flaschen und Dosen sowie eine Holzkiste. Aus der Plane baue ich meinem Unterschlupf ein Dach, das den hin und wieder hereinbrechenden Regen abhält und zugleich sammelt. Ich habe zwar meine Quelle, aber als Student der Volkswirtschaft kenne ich der Wert der Supply-Chain-Diversifikation, nur ist mir entfallen, ob es dieses Wort überhaupt gibt.
Regnen tut es im Überfluss, das schlechte Wetter meiner Heimat greift wohl noch etwas über die Küste hinaus. Das Süßwasser aus der Plane und das der Quelle fülle ich jedenfalls vorsorglich in die Flaschen. Mit der Dose hole ich etwas Salzwasser aus dem Meer, in das ich die Äste und Wurzeln der Sträucher tunke, auf denen ich gegen den Hunger ankaue. So bekommen sie zumindest etwas Geschmack. Viel mehr gibt es erst einmal nicht zu tun. Ich bin mit meinen Gedanken allein und wünsche mir sofort, ich wäre ein etwas aufregenderer Typ, dann würden mich meine Erinnerungen weniger langweilen.

Langeweile war es auch, die schlussendlich den Ausschlag gab, Ruperts Zimmer auf einen Hinweis nach dem Grund seines Verschwindens zu durchsuchen. Meine Mitbewohner trauten sich nicht, wollten, dass ich gehe, aber ich zierte mich wie ein Dackel vor einer tiefen Pfütze. Die Miete war für die kommenden Monate bezahlt, Rupert war schon vorher – wenn auch nie so lange – verschwunden und der Respekt vor ihm und seinem Eigentum verschwand so schnell nicht. Erst als am zweiten Wochenende der Semesterferien alle bis auf mich ausgeflogen waren und ich mich nicht aufraffen konnte, alleine feiern zu gehen, trieb mich eine Mischung aus Langeweile und Neugier, das Zimmer zu erkunden.
Zunächst war ich jedoch enttäuscht. Abgesehen von einem leicht herben, aber nicht unangenehmen Geruch und den schweren Brokatvorhängen war an dem Zimmer nichts ungewöhnlich. Es war größer als die anderen. Die Möbel vielleicht zu wuchtig und dunkel, die zwei schwarzen Samtkissen auf dem Bett einen Tacken zu dick aufgetragen und der Schreibtisch zu leer, um akademischen Fortschritt zu versprechen, ansonsten schien alles normal. Etwas zu ordentlich vielleicht, so symmetrisch wie alles angeordnet war. Darum fiel mir auch das in Leder gebundene Buch auf, das schräg unter dem Bett hervor lugte. Es schien wie liegengelassen und grade deshalb verräterisch arrangiert. Ich traute mich nicht, es mit in mein Zimmer zu nehmen, also setzte ich mich mit dem Buch an Ruperts Schreibtisch und schlug es auf. Es waren Notizen, manchmal mit Datum versehen, jedoch kein Tagebuch. Eher Gedanken, in klarer und etwas eigener Schreibschrift, an die ich mich aber schnell gewöhnte. Es ging viel um Menschen und drückende Gefühle, aber nicht um Depression oder Weltschmerz, eher Akzeptanz und Wunsch nach gelegentlichem Rückzug. Dazwischen war immer wieder die Rede von einer Insel.

Nach nunmehr drei Tagen hat mich der Hunger fest im Griff. Die Gedankenmühlen, die mir die Langeweile zu Beginn noch aufzwang, wünsche ich mir inzwischen fast wieder zurück. Aber meine Gedanken sind überhaupt rar geworden. Auch all meine Emotionen sind wie gedämpft. Das kann nicht nur ein Nebeneffekt der Schwäche sein. Nein, es ist, als ob ich für den Großteil meiner Gefühle andere Menschen brauche. Wenn man allein für sich ist, beginnt man schnell nur noch zu existieren. Das würde mich nicht stören, wäre meine Existenz nicht von Hunger bestimmt. Auch habe ich den häufig bewölkten Himmel unterschätzt. Meine Haut ist an manchen Stellen verbrannt. Der Blick aufs Meer lindert all diese Unannehmlichkeiten nur wenig. Es ist majestätisch genug, um abzulenken, aber es machte falsche Hoffnung. Kein Schiff habe ich bislang gesehen, bloß entfernte Schatten. Trost spendet mir nur der Sternenhimmel, wenn es nachts aufklart. Hier draußen, ohne die stete Lichtglocke des Festlandes, wirkt er endlos und überwältigend, Lichtpunkte in tiefster Schwärze, die Superlative verschlingen und zum Teil auch meine Schmerzen. Wenn mich die Verzweiflung übermannt, suche ich mir einen Stern, der so nah am Mond steht, dass er in dessen Helligkeit kaum auszumachen ist. Ich stelle mir dann vor, dass ich dieses unscheinbare Leuchten bin, dann überkommt mich die Müdigkeit und ich falle in unruhigen und immer viel zu kurzen Schlaf.
Am vierten Tag meines Niedergangs werde ich vom Kreischen einer Möwe geweckt. Die Fledermäuse, die ich am ersten Tag bei der Quelle aufgescheucht habe, waren bislang meine einzige Gesellschaft. Aber sie sind tagsüber ein Teil der Insel, flattern nachts viel zu unwirklich über meinem Kopf und stören mich eher, wenn ich in Ruhe den Himmel betrachten will. Mit dieser Möwe – sie muss sich auf die Insel verirrt haben – fühle ich mich hingegen sofort auf eine Art verbunden, die einen ganzen Schwall von Gefühlen auslöst. Ihr Schrei ruft mich zurück in ein fernes, aber eigentlich nur 4 Tage zurückliegendes Leben. Ich fühle mich weniger allein und das belustigt mich, denn vor einer Woche habe ich es noch geschafft, mich auf einer völlig überfüllten Party einsam zu fühlen.

Es war der Geburtstag eines Bekannten, so ein ‚Ich-muss-mich-aufraffen-dann-wird-es-schon-Spaß-machen-Ding‘, das nach hinten losging. Große Wohnung, viele Getränke, laute Musik und tolerante Nachbarn, aber irgendein Katalysator fehlte, denn das Gemisch zündete nicht. Zumindest nicht für mich, denn die Feier war in vollem Gange. Ich hielt mich nicht zurück, aber der Drang, dazugehören zu wollen, stellte sich einfach nicht ein. Die Menschen um mich schienen austauschbar, die Gespräche zerbrachen in Versatzstücke, die mir durch den Kopf wirbelten und meine eigenen Gedanken drifteten ständig ab. Mein Kopf schien mich von allen Menschen isolieren zu wollen und der Versuch, dagegen anzutrinken, machte die Sache nur noch schlimmer. Ich erinnere mich noch, dass mich ein Mädchen anlächelte, den Blick dann jedoch furchtbar erschrocken von mir abwandte, als ich zurücklächelte. Ich weiß bis heute nicht, was sie in meinem Blick sah, das sie so erschreckte, aber dieser Vorfall verstörte mich so sehr, dass ich sofort von der Party verschwand, ohne mich vom Gastgeber zu verabschieden.
So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt und auch wenn die folgende Nacht mir etwas Ruhe zurückgab, war das seltsame Gefühl dieses Abends mir auch am nächsten Tag noch unheimlich präsent. Unter fadenscheinigen Gründen mied ich in den folgenden Tagen jeden überflüssigen sozialen Kontakt, aus Angst, so etwas Ähnliches noch einmal zu erleben. Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, aber ich hatte keine Idee, wie ich mich in den Zustand vor diesem Abend zurückversetzen konnte.
Dann fiel mir die Insel ein, die Rupert in seinem Buch so umfassend beschrieb. Die Insel vor der Küste, bei ruhigem Meer mit einem kleinen Boot erreichbar – und auch nur in einem kleinen Boot, wegen der zahlreichen Klippen, die sie umgaben. In welcher Richtung man sie – auch ohne nautische Vorkenntnisse – fand, sowie den Pier, neben dem ab und an ein paar ungesicherte Ruderboote an Land gezogen waren. Es ist für mich heute kaum mehr nachvollziehbar, aber die Vorstellung diese Insel zu erreichen, strahlte mit einer fast hypnotischen Energie.

Heute, am fünften Tag meines Niedergangs, bin ich bereits so entkräftet, dass ich, obwohl der Hunger mir diktiert, irgendetwas tun zu müssen, noch ganze zwei Stunden an die Mauer meines Unterschlupfes gelehnt sitze, bis ich mich aufraffen kann, über die Insel zu ziehen.
Auf dem Weg zur Bucht komme ich an der Quelle vorbei. Das rostig rote Schild liegt noch immer dort, wo ich es herunter getreten habe. Zu dem Zeitpunkt hatte es sich noch angefühlt, als würde ich die Insel mit diesem Akt in Besitz nehmen, aber die Vorstellung von Eigentum verliert schnell an Bedeutung, wenn einem niemand etwas streitig macht.
Was ich von meinem Ausflug zur Bucht erwarte, weiß ich nicht. Vielleicht, dass irgendetwas brauchbares angeschwemmt wurde. Vielleicht etwas, das mir hilft, eine der Fledermäuse zu fangen oder im Meer zu fischen. Zumindest ist nicht zufällig ein ganzes Boot angeschwemmt worden, das sehe ich bereits von weiter oben. Tatsächlich sind nur ein paar Hölzer, etwas Plastik und Scherben angetrieben, doch neben dem großen Metallcontainer fällt mir eine schwarze Masse ins Auge. Vielleicht ein verwester Fisch, jedenfalls nicht das Stück Kohle, für das ich es zunächst gehalten habe. Dafür ist es zu weich, als ich es vorsichtig mit einem der umherliegenden Stöckchen anstupse. Schließlich hebe ich es hoch. Es ist ein rundes, spitz zulaufendes Polster. Ich lasse es wieder fallen, komme aber in Gedanken nicht davon los. Ich hebe es erneut auf, ich könnte es ja als Kissen nutzen. Es dauert eine ganze Weile, bis mir dämmert, dass ich es schon einmal gesehen habe. Es ist der Stachel von Ruperts Bienenkostüm. Damit kehren meine Gedankenmühlen zurück.

Die unerwartete Welle, die das alte Ruderboot so plötzlich erfasste, es gegen die Klippe drückte. Der Schlag, der durch das Boot ging, das sich plötzlich mit Wasser füllte. Meine Schockstarre, als ich mich, anstatt meinen Rucksack zu greifen, bloß an das Ruder klammerte.

Nachdem ich so eine ganze Weile in die Wirrungen meiner Erinnerung versunken in der Bucht gestanden habe, klammere ich mich nun an den einzigen Gedanken, der irgendeine Form von Aktion vorsieht. Ich schleppe mich mühsam zu meinem Unterschlupf, fülle die kleinste meiner Plastikflaschen – sie hat noch ihren Schraubverschluss – mit Süßwasser, verstaue sie sicher in meiner Jacke und gehe zurück an die Stelle, an der ich vor Tagen an Land gekrochen bin. Ich werde versuchen zum Festland zu schwimmen. Keine Ahnung, wie die Strömungen in diesem Gebiet sind. Keine Ahnung, ob ich die Richtung richtig einschätze. Ich bin eben verzweifelt. Heute werde ich erfahren, ob ich aus dem Holz geschnitzt bin, aus dem man Boote bauen kann oder ob die Schwärze durch meine Adern fließt, mit der man traurige Nachrufe druckt.

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