Malte Klingenhäger
Der Bär
Es war einer von diesen Abenden, einer von diesen gewöhnlichen. So einer, wo es hauptsächlich dunkel ist und Menschen wie Sie und ich Dinge tun, an die wir uns ein paar Tage später schon nicht mehr erinnern können. Besonders war der Abend nur für die Leute im Pianissimo, dem größten Theater der Stadt, dessen große Leuchtreklame Vorausdeutungen der wilden Geschäftigkeit in die Dunkelheit schrie, die in ihm herrschte. Das Ensemble spielte, die Crew unterstützte und ein paar ausgewählte Gäste bestaunten die Generalprobe des neusten Stückes. Die Küche füllte schon die Sektgläser, damit die Aftershowparty selbst dann ein Erfolg wurde, wenn das Stück durchfiel, die buntgekleidete Dorothee am Empfang packte bereits ihre Sachen, damit sie sich später ohne Verzögerung auf den Heimweg machen konnte, um ihre Babysitterin nicht warten zu lassen und Jacques, der junge dunkelhaarige Requisiteur, stand oben auf der Beleuchterbrücke neben einem blauen Müllsack, hielt sich ein Taschentuch auf die Platzwunde an seiner Stirn und wartete. Eine Statuette hatte ihn getroffen, mit Schwung und in voller Absicht vom Regisseur, dem alten Richard, geworfen. Jacques war nicht schnell genug ausgewichen, aber dennoch insgeheim zufrieden, denn der absehbare Wutausbruch des Regisseurs war nicht weniger als das Zeichen seiner deutlichen Niederlage gewesen. Auf seinen endgültigen Triumph musste Jacques allerdings noch etwas warten, wie ihm ein kurzer Blick auf seine Uhr verriet.
Der Ausbruch des Regisseurs war grundsätzlich nichts besonderes, da Richard seinen Zorn selten im Griff hatte. Er regte sich in tobsüchtiger Regelmäßigkeit weit über das in Künstlerkreisen ohnehin recht ansehnliche Level auf. Bei solchen Gelegenheiten wurde sein Kopf puterrot, bis die Adern an den Schläfen hervortraten und er sich schließlich die Ärmel seines Hemdes hochkrempelte, als ob er sich für eine Schlägerei bereit machte. Handgreiflich wurde er allerdings nie, es flogen Beleidigungen und Spucke, keine Fäuste – und genaugenommen hatte er sich mit dem Wurf der Statuette auch heute der Kinetik bedient, anstatt selbst Hand anzulegen.
„Geht es dir gut? Soll ich unten horchen, ob dich jemand ins Krankenhaus bringen kann?“, fragte Herbert, der massige Bühnentechniker, der plötzlich am anderen Ende der Brücke stand. Jacques hatte ihn nicht kommen hören. Dabei sah er aus, als hätte es King Kong wirklich gegeben und man hätte ihn nach den Dreharbeiten rasiert und ihm eine Stelle als Beleuchter angeboten. Wie Herbert es fertigbrachte, die so fragil wirkende Konstruktion hinauf zu klettern, ohne alles zum Wanken zu bringen, war Jacques ein Rätsel.
„Danke, aber ich will die Premiere auf keinen Fall verpassen. So schlimm ist es nicht“, antwortete Jacques und war froh, dass Herbert im Halbdunkeln die Größe der Wunde nicht abschätzen konnte. Der große Mann grunzte missfällig, doch Jacques wollte die Premiere wirklich auf keinen Fall verpassen. Ob die Theatertruppe die Zuschauer zum Ende hin aus ihren Sitzen hob, war ihm egal. Sein Erfolg würde ein anderer, dachte er, während er am Müllsack vorbei auf die Bühne herunter blickte. Die Hauptdarstellerin, eine junge Brünette, die ein für ihr Alter schon beachtliches Repertoire mitbrachte, erging sich gerade in einem elendig langen Monolog. Als Jacques sich gelangweilt abwandte und noch einmal zu Herbert umdrehte, war dieser schon wieder lautlos verschwunden.
Für Jacques war der Beleuchter eine ganz besondere Seele. Er erinnerte sich an die vielen Male, in denen Herbert ihm und anderen Azubis hier oben Zuflucht geboten hatte, wenn Richard einem seiner Wutausbrüche erlag, denn der alte Regisseur war nicht mehr in der Lage, die schmale Leiter ohne weiteres hinaufzuklettern. In den Launen Richards konnte es sogar dazu kommen, dass er Leute feuerte und Jacques hielt es für besser, ihm eine Zeitlang auszuweichen, bis aus dem „Geh mir aus den Augen!“ wieder das immer noch grantige, aber schon etwas verspielt-versöhnlichere „Geh mir nicht auf den Sack, Jacques“ geworden war. Inzwischen war Jacques‘ Ausbildung beendet und der junge Mann vom Theater übernommen worden – ganz so leicht war ihm also nicht mehr zu kündigen. Das und einiger Rückhalt beim Intendanten, der viel auf Jacques‘ Loyalität und seinen Arbeitseifer hielt, hatten seine Stelle gesichert, als Richard vor zwei Jahren erfahren hatte, wer sein Requisiteur wirklich war.
Rasch zählte Jacques in Gedanken die kommenden Szenen durch. Noch eine knappe Viertelstunde bis zum Kinderzimmer. Eine Schlüsselszene: Die Hauptfigur erinnert sich in einer Rückblende an eine Moralpredigt des Vaters – von Richard als letzter, verzweifelter und ehrlicher elterlicher Versuch inszeniert, die Tochter vor der Welt zu schützen. Natürlich schlägt dieser Versuch fehl, die Tochter lehnt sich trotzig gegen ihre Eltern auf und die Tragik ihres Lebens als Resultat ihrer Unbelehrbarkeit wird dem Zuschauer in den übrigen zwei Stunden gnadenlos detailliert dargelegt. Jacques hatte das Drehbuch gelesen und die Kausalitäten völlig anders verstanden. Für ihn war es gerade die Kontrollsucht der Eltern, die das Kind erst vertrieben, aber Richard duldete in diesen Dingen keinen Widerspruch, schon gar nicht vom Personal, also hatte Jacques sich jede Bemerkung gespart. Richards Kompromisslosigkeit hatte auch Vorteile. Niemand konnte so schnell und trotzdem so detailliert inszenieren wie er und in dieser kulturlosen Stadt, in der die Theaterbesucher zwar gut unterhalten, aber ja nicht verschreckt werden wollten, fiel es nicht auf, dass sich alle seine Stücke ähnelten. So hatte der Regisseur auch dieses Mal überdeutlich gemacht, dass er keine Abweichung von seiner Vision wünschte und war mehrfach völlig ausgerastet, weil nicht alle Requisiten Richards Vorstellung entsprachen. Es musste ein großer Spiegel sein, kein mittelgroßer. Das Bett brauchte unbedingt einen rosa Himmel, keinen blassgrünen. Die Puppen mussten altertümlich sein, durften aber nicht abgenutzt aussehen und das Stofftier auf der Kommode, das hatte gefälligst ein Bär zu sein, schließlich sei nichts mehr ein Symbol kindlicher Unschuld, als ein Teddybär, das wisse jeder, vor allem das Publikum. Jacques blickte noch einmal auf den Müllsack neben sich und grinste. Dann nahm er einen Augenblick das Taschentuch von der Wunde und betrachtete, wie sich die weiße Friedensflagge in seinen Händen durch die zinnoberrote Sonnenscheibe seines Blutes zur japanischen Nationalflagge gewandelt hatte. Er faltete den Stoff zweimal und presste ihn wieder an die Stirn.
Jacques wusste, dass Richards Engstirnigkeit bis weit in sein Privatleben reichte. Den wohl grausamsten Beweis dafür hatte der Regisseur erbracht, als er vor Jahrzehnten seine Tochter Claudia verstieß, weil diese sich mit einem Mann der falschen Konfession eingelassen hatte und sich dann weigerte, ihn zu verlassen. Als Richard später mitbekam, dass sie sich trotzdem heimlich mit ihm auf dem Jahrmarkt getroffen hatte, warf er sie aus dem Haus und hatte seither kein Wort mit ihr gesprochen. Sogar seiner Frau und der übrigen Familie hatte er jeglichen Kontakt verboten. Es war noch nicht allzu lange her, dass Jacques diese Geschichte gehört hatte, was unter anderem daran lag, dass Claudia zu dem Zeitpunkt, als Richard sie fortscheuchte, bereits schwanger war. Schwanger mit ihm, Jacques.
Er hatte sich immer gewundert, warum seine Eltern, die sonst so liberal und offen mit ihm umgegangen waren, plötzlich versuchten, ihm die Ausbildung am Theater auszureden, gar zu verbieten. Selbst als er den Vertrag am Theater heimlich unterschrieb und erst einige Tage später den Mut aufbrachte, seine Eltern vor vollendete Tatsachen zu stellen, dauerte es noch einen ganzen Monat des gegenseitigen Anschweigens, bis sie sich mit ihm zusammensetzten und ihm unter Tränen offenbarten, warum sie sich seinen Plänen in den Weg gestellt hatten. Jacques war zunächst wütend. Warum waren sie nicht weiter weg gezogen als in den nächsten Vorort? Warum hatten sie ihm nicht früher den Grund für ihr Verhalten genannt? Dann aber beruhigte er sich, verstand, dass es gute oder zumindest menschliche Gründe für die Entscheidungen seiner Eltern gegeben hatte und sie wurden sich schmunzelnd einig, dass es ihrer Familie noch nie gut getan hatte, wenn sich die Eltern in die Leidenschaften ihrer Kinder einmischten. Tatsächlich ging die Sache lange Zeit gut. Das „heimliche Schauspiel im Theater“ nannten sie es hochtrabend, obwohl es nur darum ging, Jacques‘ Identität vor seinem Großvater geheim zu halten, was nicht weiter schwer war, da Jacques Mutter den Namen ihres Mannes angenommen und Richard diesen in seiner Ignoranz niemals in Erfahrung gebracht hatte. Vor zwei Monaten jedoch, am Pfingstwochenende, da waren sie sich alle durch einen dummen Zufall begegnet. Im einzigen Park des Vorortes, in dem seine Eltern lebten. Nur einen kurzen Moment, aufgerissene Augen, dämmernde Erkenntnis, Richard, Jacques und seine Mutter. Danach hatte Jacques die größte Angst zur Arbeit zu erscheinen, aber Richards einzige Reaktion hatte daraus bestanden, Jacques mit der gleichen Übung zu ignorieren, mit der er auch seine Tochter verleugnete. Keine Wutausbrüche mehr, die Jacques zum Ziel hatten, knappe, präzise Antworten statt langer Reden – kurz: Richard verhielt sich so professionell, wie nie zuvor, jedoch aus dem widersinnigsten Grund heraus, den Jacques sich vorstellen, auf keinen Fall aber hinnehmen konnte. Richards Wutausbruch heute war eine echte Erlösung gewesen und Jacques hatte im wahrsten Sinne Kopf und Kragen riskiert, als er ihn auslöste. Kurz vor der Premiere noch Teile der Dekoration auszutauschen, war bei den Schauspielern nie sehr beliebt, bei einem Regisseur wie Richard aber brandgefährlich. Nur der trotzige Perfektionismus des Regisseurs hatte dafür gesorgt, das entsprechende Teil nicht restlos von der Bühne zu streichen. Ohne irgendeinen Teddybären ging es nicht, das hatte Richard selbst gesagt, also musste er nun den nehmen, den Jaques erst heute mitgebracht hatte. Der ursprüngliche Plüschbär hielt in dem Müllsack neben dem jungen Mann seinen Winterschlaf. Ein Paket Wein würde es kosten, dass der Beleuchter ihn sein Reich als Versteck nutzen ließ.
Jaques fühlte seine Abscheu gegen Richards Starrsinn aufsteigen, als er den alten Mann jetzt hinter der Bühne erblickte, wo er in der kurzen Umbaupause die Bühnentechniker überwachte. Jacques war froh, dass er nicht dort unten stand. Richard hatte ihn kurzerhand vom heutigen Abend abgezogen. Aber er schien zu spüren, dass Jacques sich nicht sofort verdrückt hatte. Immer wieder blickte er sich um, als suche er ihn, schließlich legte er tatsächlich kurz den Kopf in den Nacken und blickte Jacques für einen Moment in die Augen. Fast hätte Jacques so etwas wie Mitleid empfunden, dann drehte Richard sich abrupt weg, verschwand hinter einer Holzkonstruktion und die Umbaupause war vorbei. Der Requisiteur lehnte sich etwas weiter vor, suchte die Szenerie unter sich ab. Zwei Bühnenarbeiter huschten schnell vom Holz, die Hauptdarstellerin streckte sich – sie würde erst nach dem Vorhang auf die Bühne treten – und mitten auf der zentral stehenden Kommode saß der rote Plüschbär, den Jaques heute mitgebracht hatte. Der gleiche rote Plüschbär, den Jacques Vater vor 19 Jahren auf dem Jahrmarkt für seine Frau gewonnen und der Richard auf die Spur dieses heimlichen Treffens gebracht hatte, als er ihn unter ihrem Bett fand. Jetzt war es das erste, was die Zuschauer sahen, als der Vorhang sich wieder öffnete. Zufrieden griff Jacques sich ein zweites Taschentuch und tupfte es erst kurz an seine Augen, bevor er es sich an die Stirn presste.
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