Malte Klingenhäger

Außergewöhnlich

Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn man sich aus Versehen selbst zuhört und mit Erschrecken feststellt, dass die eigenen Worte so gar nicht zu einem passen wollen. So wie gestern Abend. Während des Flirts mit dieser jungen Schönheit, dessen Erfolg ich jetzt dafür verantwortlich mache, dass ich heute wahrscheinlich zu spät zur Arbeit kommen werde. Ich renne in meinem Anzug ungelenk zur Bushaltestelle. Mein kleiner, schwarzer Koffer schlägt mir immerzu in die Kniekehlen. Ich nehme das zum Anlass, noch schneller zu laufen. Als wäre ich auf der Flucht vor den studentischen 26 Jahren, die daheim bei mir im Bett liegen und die mir doch eigentlich nur beweisen sollten, dass ich es mit 40 noch drauf habe.
Noch genau ein Block bis zur Bushaltestelle. Kein Auto bedeutet Bonus – neue Kampagne meiner Firma. War ehrlich gemeint, bis die Marketingabteilung drüber gestolpert ist. Jetzt fahre ich Bus, um neue Absatzmärkte zu erschließen, dabei möchte ich morgens bloß schnell zur Arbeit.
Malte Klingenhäger Kurzgeschichte: AußergewöhnlichMeine Schuhe klacken laut auf den Steinen des Bürgersteigs. Flucht vor dem gestrigen Abend, Jagd nach dem Alltag. Zwei Flaschen Wein und 5 Gläschen Tequila fallen mir von der Brust, als ich den grünen Fleck an der entfernten Haltestelle ausmache. Wenn ER noch dort steht, kann der Bus noch nicht dagewesen sein. Meine grüne Konstante. Ein orangener Hut, blaue Jeans, Sandalen bei jedem Wetter und eben dieses giftgrüne Jackett. Ein älterer Herr, mit dem ich jeden Wochentag gemeinsam auf den Bus warte. Wir beide steigen immer in der gleichen Reihenfolge ein – lassen allen anderen den Vortritt. Er trägt immer die gleichen Klamotten, immer die gleiche Uhr und wenn dieser nicht belegt ist, setzt er sich immer auf den gleichen Platz im Bus. Drei Reihen hinter dem Fahrer, rechte Seite. Zwei Stationen vor mir steigt er aus. Immer. Er ist wie Gottes grünes Metronom.
Völlig außer Atem erreiche ich die Haltestelle. Er ist es tatsächlich. Ich sehe ihn auch sonntags, wenn ich aus dem Fitnessstudio komme. Dann sitzt er im Café gegenüber. Mit einer Zeitung in der Hand. Immer.
Ich würde ihn heute gerne an mich drücken, mich an ihm festklammern , aber glücklicherweise ist mein Körper zu erschöpft, um jeder dummen Eingebung zu folgen. Stattdessen reiche ich ihm die Hand.
„Schön Sie zu sehen“, sage ich und meine es mit jeder Silbe. Es ist das erste Mal, dass ich ihn anspreche. Der Mann schüttelt meine Hand, als ob er es auf eine tiefgründige Art genösse. Ich kann nicht sagen, ob er mich erkennt. Er lächelt mich fein an. Glaube ich. Er hat einen kleinen Spitzbart und sieht aus, wie ein zu lang geratener irischer Kobold. Hager und ein etwas größer als ich. Ob er nachts auch an kalten Füßen leidet? Manchmal stoßen Decken an ihre Grenzen. Oder man stößt an die Grenze der Decke. Mein Kopf hat sich in vergangener Nacht verirrt und noch nicht zurückgefunden.
Ich stelle mich vor, frage im Gegenzug, wie er heißt, der ganze obligatorische Scheiß eben, der uns Menschen Halt gibt und den man selbst dann noch keuchen kann, wenn die Lunge brennt und die Realität auf einem lastet, wie eine Winterdecke bei Fieber.
„Angenehm, ich heiße K. “, antwortet Gottes grüne Atomuhr und beugt sich vor, um an mir vorbei nach dem Bus zu schauen, der in die Haltebucht fährt. Wir steigen ein, grüßen den Busfahrer und ich hoffe inständig, dass ich nicht mehr nach dem gestrigen Abend rieche. Oder nach der Nacht. Oh diese verkommene, schmutzige Nacht. Warum ist seelische Entspannung körperlich manchmal so anspruchsvoll?
Ich bleibe heute vor der dritten Reihe hinter dem Busfahrer stehen, warte, bis Gottes grüner Fahrplan sich gesetzt hat und lasse mich seufzend auf den Sitz neben ihm fallen. Eine verrückte Zeit ist das grade für mich. Ich habe nur wenig Angst davor, noch einen drauf zusetzen.
„Wo fahren sie hin?“, frage ich. Ich habe so kleine Träume, denke ich.
„Pestalozzistraße“, antwortet Herr K.
„Was machen Sie dort?“
Jetzt schaut er mich an. Ich glaube schon, dass es ein Lächeln ist. Ganz sicher bin ich mir nicht, es ist ein bisschen wie bei der Mona Lisa.
„Ich mache nichts. Ich bin Experte“, erläutert Gottes grüne To-Do-Liste.
„Experte wofür?“, frage ich kühn.
„Für Außergewöhnliches“, sagt er und ich lache laut los. Dem vor uns sitzenden Teenager fällt vor Schreck sein Handy aus der Hand.
„Was amüsiert Sie?“ fragt Herr K.
„Sie sind vielleicht grün, aber nicht außergewöhnlich. Sie … Sie … sind immer gleich!“ Energisch fuchtel ich mit meinen Händen in der Luft herum, als könnten sie mir helfen, mich zu erklären. Aber was ich sagen will ist filigran und meine Hände sind grob.
Herr K. nickt trotzdem.
„Natürlich, welcher Experte für Außergewöhnliches wäre das nicht?“
„Natürlich“, antworte ich verwirrt. Meine Hände schweigen jetzt.
„Es ist eine sehr subjektive Kunst. Das Außergewöhnliche. Man kann ja alles für gewöhnlich halten. Kriege. Popmusik. Atomkraft …“ weiht er mich ein.
Ich nicke, bin aber noch nicht in der Lage, Anschluss an seine Gedanken zu finden. Ich weiß auch nicht, ob ich das will, oder ob ich dafür einen Spitzbart und ein grünes Jackett brauche.
„Man kann aber auch alles für Außergewöhnlich halten. Vögel. Menschen. Steine,“ führt er fort. Gottes grüner Terminkalender schaut mich wissend an.
„Ist Ihre Expertise damit zusammengefasst?“ frage ich.
„Nein, Nein, ich bin Experte, mit Expertise hat das nichts zu tun. Sehen Sie, wenn man alles für außergewöhnlich halten kann, kommt es nur noch darauf an, all das Außergewöhnliche auch wahrzunehmen. Und dazu müssen sie Experte sein. Wissen brauchen sie nichts.“
„Was?“
„Ein Experte für Außergewöhnliches ist ein Seismograph. Er selbst ist gewöhnlich. Sogar so gewöhnlich, wie es nur geht. Er definiert gewöhnlich grade zu. Trinkt Normalität aus der Routine. Badet jeden Abend zur gleichen Uhrzeit im Alltag.“
„… Kleidet sich äußerst schräg …“, werfe ich ein, aber Herr K. redet unbeirrt weiter.
„Dieser Kontrast zu dem, was er sucht, ermöglicht es dem Experten, eben dieses einfacher zu erkennen. Es fast ständig zu erleben. Es zu spüren. Wie der Fels des Usus, an dem die Wellen des Außergewöhnlichen sich brechen!“
„Macht Sinn“, stammle ich, habe aber nicht mehr als eine Ahnung, als wirklich zu verstehen. Nichts, das einem Ansturm von Vernunft standhalten würde. „Je gewöhnlicher man ist, desto höher ist die Chance, etwas Ungewöhnliches zu erleben? “ frage ich.
„Subjektiv, ja, objektiv steigt nur die Chance, es wahrzunehmen.“
„Sie sind bekloppt,“ sage ich.
„Ja, ja, aber das ist jetzt eine ziemlich gewöhnliche Aussage. Das habe ich schon zu häufig gehört. Aber eben nicht von Ihnen. Das ist außergewöhnlich. Genauso wie ihr Händedruck, oder das sie mich heute überhaupt angesprochen haben.“ Er listet noch ein paar Dinge auf, die ihm aufgefallen sind. Das ich geschwitzt habe, sonst nie schwitze. Das ich ungekämmt bin, würde mir selten passieren. Ich höre nicht mehr hin. Das ist an so einem Morgen alles ein bisschen viel für mich. Ich bezweifle, dass ich neben Herrn K. sitzen bleiben würde, wenn mein Verstand auf Alltag getaktet wäre.
„Aber warum tragen Sie dann diese schrägen Klamotten? Damit fallen sie auf, oder?“ unterbreche ich ihn erneut. „Stört das nicht Ihre Messung?“
„Sie waren im Angebot. Wissen sie, wie teuer Anzüge sind? Ich brauche schließlich etwas zum Wechseln. Es ist wichtiger, dass der Wechsel nicht auffällt, als die Klamotten selbst unauffällig zu halten. Außerdem ist es eigentlich kein Problem, wenn man das Außergewöhnliche mal ein wenig provoziert. Zumindest nicht in einer so gewöhnlichen Stadt wie dieser. Ich bin schließlich in Rente, da kann man sich etwas Spaß gönnen.“
„Sie Wilder, Sie“, necke ich ihn, aber er lächelt nur.
„Gibt es mehr Leute wie Sie?“ frage ich.
„Sie wären erstaunt“, antwortet Herr K. mit vielsagendem Blick.
„Das bin ich schon“, bemerke ich.
„Klasse, nicht?!?“ Herr K. ist ganz begeistert. Er erzählt irgendeine langweilige Geschichte. Ihr folgt eine weitere. Seine Stimme ist angenehm, aber ich bleibe dabei, er ist ein Spinner.
„Ich gehe also in diesen Supermarkt, wie ich jeden Tag hinein gehe. Ich gehe immer abends, da ist eigentlich viel zu viel los. Beim Hineingehen sehe ich auch eine riesige Schlange an den Kassen. Ich kaufe das Übliche ein und als ich zur Kasse komme … ist die Schlange verschwunden! Ich werde sofort bedient!“
Ich kann seine Begeisterung mit etwas Mühe nachvollziehen, trotzdem bin ich mir sicher, ihn falsch zu verstehen. Tatsächlich bin ich fast ein wenig neidisch darauf, dass er so intensiv zu leben scheint. Gottes grüner Kalender ist wahrscheinlich der aufmerksamste Mensch, der mir je begegnet ist. Ich denke darüber nach, wie er wohl an meiner Stelle reagieren würde, wenn er auf sich selbst träfe. Mir wird schwindelig.
„Oh,“ macht er. „Ich habe meine Haltestelle verpasst.“
„Es tut mir leid, wenn ich Sie abgelenkt habe“, entschuldige ich mich. Herr K. drückt währenddessen schnell den Halteknopf und erhebt sich.
„Jetzt kann ich das ganze Stück zurück laufen! Das ist mir noch nie passiert,“ freut er sich und hält mir seine Hand hin. „Danke!“
Ich bringe kein Wort mehr raus, nicke nur und schüttle seine Hand zum Abschied. Der Bus hält. Ich höre noch, wie Herr K. ruft: „Das wird spitze!“
Dann ist Gottes grüne Stechuhr verschwunden.

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