Dierk Seidel

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx

Wie ich Karl Marx bekam

Ich laufe immer wieder auf und ab. Überlege, ob ich einfach mein Rad nehmen und nach Hause fahren soll. Haben sie mich halt verarscht. Dachte, ich finde neue Freunde. Was soll ich zuhause erzählen? Soll ich erzählen, sie seien nicht gekommen? Dann macht Mutter sich wieder Sorgen, sie will doch, dass ich Freunde finde. Wollte schon, dass ich zu den Pfadfindern gehe, aber da sind ja viele rechts, hab ich gehört. Mutter ist immer so besorgt. Ich aber auch manchmal.

Blicke auf die Uhr. 15:10 Uhr. Um 14:30 Uhr wollten sie kommen, mich mitnehmen zur Versammlung in Pascals Keller. VKS. Vereinigung kommunistischer Schüler. Da kann man was bewegen, hab ich gehört. Ursprünglich fand ich die Truppe immer nur cool, wie sie in ihren Bundeswehrparkas, Cordschlaghosen und Nirvana-T Shirts rauchend an der Ecke beim Dönerimbiss neben der Schule standen. Sie wirkten wie aus einer längst vergangenen Zeit. So was hatte ich in Büchern gelesen. Ich kannte sie von Partys und wollte dazu gehören. Vereinigung kommunistischer Schüler. Sie hatten zum Teil einen Button mit rotem Stern drauf, sehr plakativ. Eigentlich zu plakativ und auch irgendwie naiv.

Aber gut, um mal auf Karl Marx zu kommen, in einem Haus, in dem er in Trier gelebt hat, ist jetzt ein Ein-Euro Shop. Auch irgendwie plakativ.

Unsere Schule war ein Sammelpunkt für Gruppierungen. Die Skater und Boarder, die Metaller, die Normalos, die Nerds, und eben wir, die Zecken (im Prinzip eine Mischung aus allen Gruppen, aber mit `ner ganz klaren Absicht). Und dann gab es noch so eine Truppe, die sich über uns lustig machte. Aber wir hielten zusammen. Wir gingen in unterschiedliche Klassenstufen, waren nicht zwingend gute Freunde, aber in der Gruppe waren wir stark. Das war schon ein gutes Gefühl.

Bevor das alles losging, stand ich an der Ecke der Hauptpost, das war der Treffpunkt. Auf einer Party war ich das erste Mal mit ihnen in Kontakt gekommen und hatte mir zwei gesucht, die mich zum ersten Treffen mitnehmen, mich einführen, mich vorstellen würden.

Aber nun warte ich schon fast eine Stunde, schaue immer wieder auf die Uhr, haben sie mich verarscht, war das dieser Kommunismus, diese Gemeinschaft? Sind das Lektionen im Leben, die ich als 14-Jähriger verkraften muss?

Ich habe kein Handy, ich kann nicht schreiben, dass ich enttäuscht bin und dass ich jetzt nach Hause fahre. Bestimmt zehn Mal bin ich kurz davor, nach Hause zu fahren und dann kommen sie um die Ecke, Martin und Lars. Der eine etwas stabiler, der andere lang und schlaksig, beide schulterlange Haare. Beide wirken abgehetzt. Sagen nicht viel. Zeigen nur auf Martins Rad. Vorderreifen platt. Auf der Hälfte der Strecke geplatzt, also noch 4 km zu Fuß. Sie haben mich nicht vergessen, es gibt nur noch keine Handys. Es war scheiße für mich, aber sie können nichts dafür. Und ab dem Moment bin ich drin.

Im Diskussionskeller, der an allen übrigen Tagen ein einfacher Wäschekeller war, diskutierten wir über Dinge, und ich starrte die Freundin vom Häuptling an. Hübsch war sie. Von den Diskussionen weiß ich nicht mehr wirklich was. Das war mein Einstieg in den Kommunismus. Ich solle das kommunistische Manifest lesen, kleine Hausaufgabe. Ja, werd ich dann bald machen, sagte ich.

Eine Woche später der Wandel. Denn dann benannten wir uns um. Demokratische Schüler. Das wirke nach außen besser, sagte der inoffizielle Anführer und unter dem Namen gab es gute Aktionen. Spendensammlung für die Opfer des Afghanistankriegs, Antirassismusparty, Ostermarsch, Demo gegen Stoiber. Aber was Kommunismus war, wusste ich nicht. Und die Hälfte unserer Truppe vermutlich auch nicht. Links, ja klar, aber was die ganzen Theorien bedeuten, da blickt doch kein 14-Jähriger durch. Ich habe das kommunistische Manifest dann aber doch gelesen. Mit ca 25 im Studium. Seminarlektüre. Erst zu dem Zeitpunkt erfuhr ich, dass Martin das Manifest nie gelesen, geschweige denn besessen hatte. „War doch alles nur Spielerei damals“, sagte er. Eine schöne Spielerei war das. Und Ton Steine Scherben höre ich immer noch gerne. Aber der Einzige, der wirklich Plan von der ganzen Thematik hatte, der war nicht in unserem Verein. Er stand drüber und wurde von Manchen nicht ernst genommen, aber er hat uns selbst auch nicht ernst genommen. An meinen 15. Geburtstag gingen wir ins Kino und er schenkte mir zwei Biografien. Eine über Engels, eine über Marx. Ich habe sie immer noch nicht komplett gelesen. An meinem 15. Geburtstag gingen wir ins Kino. Ich bekam Bücher geschenkt, die mich intellektuell forderten und wir schauten den Film „Natürlich blond“.