Dierk Seidel
Weitermachen
Ich klicke meine Ordner durch. Da ist dieser eine Ordner mit dem großen Dokument. „Romanskript.“ 2019 habe ich den Ordner das letzte Mal geöffnet und zum letzten Mal am Roman gearbeitet. Damals im Frühjahr nahm ich mir vor, noch ein halbes Jahr daran zu arbeiten, dann wäre er fertig, der Roman, egal ob gut, oder schlecht, aber er wäre dann fertig.
Und dann kam etwas dazwischen, ungeplant, ungewollt, privat. Das Dokument verschwand aus dem Blickwinkel. Ab und an fragte ich mich, ob ich da nicht mal wieder weitermachen solle. Doch ich wollte nicht, ich konnte nicht. Ich wusste nicht wie. Und die Geschichte entfernte sich immer weiter aus meinen Gedanken. Der Stil, wenn ich jetzt weiterschriebe, vermutlich ganz anders als die ersten Kapitel, das Ziel, der Plot, immer noch diffus.
Anfang 2019 war alles klarer, zwar auch ein wenig diffus, aber mit einer ungewohnten Energie, die mich durchströmte, das Ding fertigzuschreiben. Und dann kam etwas dazwischen, ungeplant, ungewollt, privat. Und der Roman war weg. Immer weiter zogen die Charaktere aus meinem Kopf. Sie lebten ihr Leben, aber nicht mehr bei mir.
Ich klicke heute durch den Ordner, öffne das Dokument, scrolle runter, scrolle weiter runter, es sind einige Seiten zusammengekommen – und bin irritert. War da nicht mal viel mehr? Panik überkommt mich, ich halte kurz Inne und lache. Wenn die Panik da ist, weil etwas fehlen könnte, bedeutet mir der Roman vielleicht doch noch etwas. Ich suche weiter, gehe alle Dokumente in dem Ordner durch. „Resterampe“, „Skriptalt“, „KapitelIVSpießersein“, „Planung“, „Figuren“, „MenschRudiPräteritum“. Das ist es also. Die aktuellste Version. Im Präteritum geschrieben. Ich scrolle bis zum letzten Kapitel. Lese es. Das Kapitel liegt da wie eine staubige Wohnung, die lange verlassen war und nun nach Ewigkeiten wieder betreten wurde. Bettlaken sollten vor Staub schützen. Hier ein Dateiname, den ich vergessen hatte. Nach dem letzten Kapitel beginnt ein Neues. Ein paar Stichworte stehen da. Ich weiß nicht mehr, was sie bedeuten sollten, damals, 2019. Ich wollte es vergessen und es ist mir gelungen. Ich schließe die Augen, fange an die Charaktere wieder zu sehen, spüre sie, weiß aber noch nicht genau, wo ihr Weg hingehen wird. Ich merke, wie etwas lodert in mir. Wo wird der Weg hingehen? Wie werden die Figuren ihren Weg gehen? Werde ich weitermachen? All diese Fragen, auf die ich keine Antworten habe. Doch irgendwo tief in mir, ist dieser Funke, der mir sagt:
„Denk‘ wenigstens über das Weitermachen nach.“
Und wer weiß, wer weiß, vielleicht.