Yasmin Alinaghi

weg Brücke

Willemstad, Curaçao, 2012

Am letzten Abend ihrer Hochzeitsreise aßen Trygve und Randi im Perla del Mar. Die Meeresfrüchte schmeckten hervorragend, und die Terrasse des Restaurants lag direkt am Meer. Vom Tisch aus konnte man Aale, Krabben und Seesterne beobachten, die Gischt schlug an die Planken; es war das perfekte Ambiente für ein romantisches Abendessen. An ihrem Abschiedsabend auf Curaçao wollten sie ein letztes Mal die bunte Traumkulisse von Willemstad bewundern. Nach dem Essen machten sie daher einen kleinen Spaziergang durch Otrobanda und Punda, wo sich das Perla del Mar an der Wasserfront befand. Die beiden Ortsteile von Willemstad wurden von der St.-Anna-Bucht getrennt, und für Fußgänger und Radfahrer gab es eine Verbindung in Form der Königin-Emma-Brücke. Allerdings bevorzugten auch Mofa- und Scooter-Fahrer diesen Übergang, um sich den Umweg über die weiter vom Zentrum entfernte und für Kraftfahrzeuge vorgesehene Königin-Juliana-Brücke zu ersparen.

Die diversen motorisierten Gefährte auf der Fußgängerbrücke verwunderten Trygve und Randi nicht, immerhin hatten sie letztes Jahr auf Kuba sogar Inlineskater auf der Autobahn gesehen. Wobei sich die Skater teilweise schneller vorwärts bewegt hatten als die Esels- und Pferdekarren, die ebenfalls über die löchrige Fahrbahn gerumpelt waren. Die Nutzung der kubanischen Schnellstraßen war zweifelsohne sehenswert, aber die Konstruktion der Königin-Emma-Brücke auf Curaçao weltweit einzigartig. Die Schwimmbrücke treibt nämlich auf der St.-Anna-Bucht, ohne fest mit dem Ufer verankert zu sein. Ihre Holzplanken liegen auf großen Schwimmbojen, sogenannten Pontons, fast unmittelbar auf der Wasseroberfläche auf. Die Meeresbucht von St. Anna wird von Booten und Schiffen befahren, die zwischen dem Binnenhafen von Willemstad und der Karibik verkehren. Um die Durchfahrt zu ermöglichen, verfügt die Pontonbrücke über einen Schwenkmechanismus. Aber anders als bei der Tower-Bridge in London, diein der Mitte nach oben klappt, schwenkt die Königin-Emma-Brücke zur Seite aus.

Yasmin Alinaghi Kurzgeschichte: weg BrückeAn ihrem ersten Urlaubstag reagierten Trygve und Randi zunächst erschrocken, als auf der Brücke ein Warnton losging, sich Gittertore auf beiden Uferseiten schlossen und der Steg langsam seitwärts glitt. Besonders irritiert waren sie, als sich Fußgänger und Mofafahrer beim einsetzenden Alarmsignal hastig an der Absperrung vorbeizwängten. Auf dem Brückenstück hinter den Toren rückten sie in aller Seelenruhe so weit wie möglich vor und warteten, bis ihr Teilstück wieder ans Ufer anlegte. Nach einer Woche auf Curaçao zählten Trygve und Randi ebenfalls zu diesen routinierten Brückengängern. Als der Alarm heute Abend ertönte, beeilten sie sich, durchs Gitter auf den Steg zu schlüpfen und den schwungvollen Ausblick von der Bucht auf die erleuchteten Häuserfassaden von Willemstad zu genießen. Wie gewohnt schwenkte die Pontonbrücke so weit zur Seite, dass eine schmale Durchfahrt entstand. Ein wartendes Boot passierte innerhalb weniger Minuten und sofort schloss sich die Lücke erneut. Verliebt schlenderten Trygve und Randi durch Otrobanda und genossen den letzten tropischen Abend, bevor es für sie zurück ins kalte Norwegen ging. Als sie gegen Mitternacht wieder an die Königin-Emma-Brücke kamen, trauten sie ihren Augen kaum.

„Where is the fucking bridge?“ Das Pärchen staunte perplex. Die Brücke war weg! Komplett weg! Nicht ausgeschwenkt wie üblich, sondern parallel zum Ufer weggeschwenkt; verschwunden und stillgelegt. Randi starrte hilflos auf die Informationstafel, die am geschlossenen Gitter hing und eindeutig einen 24-Stunden-Betrieb auswies. Die beiden beruhigten sich erst, als sie von anderen Touristen erfuhren, dass es wenige Meter weiter eine Fähre gab, mit der sie zurück nach Punda übersetzen konnten.

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