Dierk Seidel

Von Häuptlingen und Kakao

Wir schleichen durch die Steppe und geben uns gegenseitig Deckung. Wir schieben unsere Bögen immer vor uns her und hoffen, dass man unseren Köcher nicht entdeckt. Wir halten uns flach und kommen so langsam an die Grenze, an den Wall der feindlichen Territorien. Wir spüren den Schmerz in den Knochen von tagelanger Suche nach der Indianerfrau, die wir schon viel zu lange missen. Wir spähen hinüber. Nur noch fünf Meter ist das Gefängnis entfernt. Eine Hütte aus Holz, genau wie wir vermuteten und genau wie wir es uns erhofft hatten, haben sie den Boden der Hütte frei gelassen. Wie dumm von ihnen. Eine Hütte nur auf Sand zu bauen – ohne Fundament. Aber ohne Schaufel und Hilfe kommt auch die tapferste Indianerfrau da nicht raus. Gut, dass wir unterwegs sind. Die Retter. Der Häuptling und ich, sein bester Krieger.

Kurzgeschichte Dierk Seidel – Von Häuptlingen und KakaoWir blicken uns um und können nichts weiter entdecken. Keine Spur der feindlichen Banditen. Unser Glück. Wir robben zur Hütte und graben im Wechsel so schnell wie wir nur können. Der Tunnel weitet sich immer mehr und der Häuptling nickt mir während einer kurzen Pause zu. Er will es wagen und steckt direkt im Anschluss seinen Kopf durch, aber er ist keine Katze, bleibt hängen, zieht seinen Kopf zurück und wir graben weiter und weiter und weiter. Bis wir das Gefühl haben, dass wir es nun schaffen können. Der Häuptling zuerst. Als ich nur noch seine Füße wackeln sehe, ziehe ich mich ebenfalls durch die Arbeit der letzten Stunden. Drinnen die Erleichterung. Unserer Indianerfrau geht es gut. Der Häuptling hat sie schon befreit. Doch plötzlich hören wir ein Rufen. Kommen die Banditen zurück? Was sollen wir tun? Die Stimme wird lauter. Sie kommt uns bekannt vor. Verdammt, muss das jetzt sein? Der Häuptling schaut mich fragend und gierig an. Er ist etwas dicker als ich und fragt: „Hast du auch grad was von Kakao und Kuchen gehört?“

„Ja“, ruf ich laut und wir schmeißen gleichzeitig unsere Bogen und Köcher auf den Boden des Fantasiehauses, steigen über den Rand des Sandkastens, zu dem wir uns so mühsam einen neuen Zugang verschafft hatten und rennen zur Terrasse, wischen den Dreck der Hände an unseren grasgrünen Hosen ab und stürzen uns auf Kakao, Kekse und Kuchen. In spätestens zehn Minuten werden wir unsere Indianerfrau rausholen, jetzt aber noch nicht.

Wir schleichen uns langsam an, wir tanzen uns immer weiter vor. Du der Häuptling, ich der Krieger. Kein Bogen und kein Köcher mehr. Wir zünden unsere neue Zigarette mit der alten an. Wir erspähen sie, unsere Auserwählte, und schauen sie mit unglücklichen Augen an. Sie lächelt irgendwann. Zu dir, zu mir, außer ihr, wer weiß das schon? Du bist der Häuptling, ich bin der Krieger und wir lieben sie beide und gehen dann doch lieber auf ein Bier nach draußen.

„Sie müsste sich ja für einen von uns entscheiden, das wollen wir ihr ja nicht zumuten“, sagst du. Ich nicke, ziehe lang und stelle fest, dass meine Zigarette verglimmt ist. Ich drehe sie immer zu fest, hindere mich selbst am Rauchen. Wie praktisch. Ich blicke den Häuptling an und frage mich, ob das wohl ewig so weiter geht oder ob es unausweichlich zum Bruch, zum Verrat kommen muss.

Wir treffen uns nach zehn Jahren wieder. Die Zeit verging wie im Fluge und auch die Zeit, als wir schon längst keine Häuptlinge und Krieger waren, kündigte sich schneller an, als erwartet. Man ging sich plötzlich aus dem Weg und die letzten Worte, die wir sprachen, waren Prahlereien, wer mehr gesoffen hatte. Mit 14. Der Häuptling hatte wieder mal gewonnen. Auch wenn ich glaube, dass er nicht ganz bei den Tatsachen blieb. Eine kurze Phase war ich mal Häuptling, unser Stamm hatte Zuwachs bekommen und es wurde abgestimmt. Aber zu sagen, hatte ich eigentlich nichts.

Zu Beginn traf ich ihn nur bei Facebook und stellte fest, dass er glücklich ist. Ich war auch glücklich, konnte ihm sein Glück aber nicht gönnen. Ich sei immer der, der alles zerdenkt, hat er damals gesagt, bevor es schrittweise auseinanderging. Und ich dachte damals, dass er nichts anderes hinterlässt als eine Wunde tief in mir drin. Ich sah ihn also bei Facebook und sah sein Glück und konnte es ihm nicht gönnen, aber ich wollt es versuchen.

An einem Samstag traf ich ihn mehr aus Zufall in unserer alten Heimatstadt. Wir nickten uns zu, hielten tatsächlich an und er schwang Reden über das, was er macht und das, was ich schon von Facebook wusste. Er sagte, er sei seit Kurzem verheiratet. Das wusste ich nicht. Es traf mich irgendwie. Dann kam seine Frau auf uns zu. Es reichte ein kurzer Blick. Der Häuptling hatte unfair gespielt und sein Spiel gewonnen.