Dierk Seidel

Aus der Reihe: Vom Schwitzen, Fallen und wieder Aufstehen

Part 3: Looking for freedom

9. Juli 2005. Samstagnachmittag um halb vier. Rückspiegel einstellen, Rückwärtsgang einlegen, aus dem Carport rollen, wenden und auf zu Bert.

Fünf Minuten später.

Bert riss die Tür des kleinen Peugeot 206 auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

„Fahr los, auf nach Meppen, Hosen sehen.“

Ich drückte auf das Gaspedal und näherte mich der A31. Im Emstunnel habe ich immer das Gefühl, dass er sich hinter einem schließt und vor einem langsam öffnet. Ein tolles Gefühl, zu sehen wie das Licht am Ende des Tunnels immer heller wird. Bert und ich hatten die Hosen vor ungefähr einem halben Jahr das letzte Mal gesehen – an meinem 18. Geburtstag in der Stadthalle in Bremen.

Die Fahrt damals nach Bremen war abenteuerlich genug. Bevor es zum Zug ging, schaute ich beim Augenarzt vorbei und ließ mir Tageskontaktlinsen einsetzen. Pogo und dabei die Band sehen können – an meinem 18. Geburtstag sollte alles perfekt sein. Wir trafen uns am Bahnhof. Acht Freunde, zwei Kästen Bier und ein Ghettoblaster mit acht sehr dicken Batterien. Das konnte nur gut werden. Die Musik lief laut und wir sangen ordentlich mit. Kurz nach dem Halt in Oldenburg kam ein Getränke- und Snackverkäufer vorbei.

„Nu machen sie mal die Musik etwas leiser. Will ja nicht jeder diesen Krach hören.“

Wir drehten etwas leiser.

In Hude kam dann der Schaffner sehr wütend in unseren Wagen.

„Mein Kollege hat euch gerade gesagt, dass ihr die Musik ausmachen sollt. Ihr fliegt im nächsten Bahnhof raus.“

„Moment Mal“, sagte ich, „ihr Kollege sagte, leiser machen“

„Willst du sagen, ich lüge?“

„Ja, das kann“, da unterbrach mich Bert.

„Lass gut sein.“

Der Schaffner polterte weiter.

„Musik aus, oder raus.“

Wir gaben nach und drehten aus. Kurz nach Delmenhorst grinste Johnny und drehte den Blaster wieder auf.

„Wenn er uns jetzt rausschmeißt, fliegen wir in Bremen raus. Das wäre perfekt.“

Wir verstauten unsere Sachen in Schließfächern am Bahnhof, brachten eine Pfandkiste zu Edeka, holten uns noch neues Wegbier und ich zeigte mit Stolz meinen Perso an der Kasse vor.

„Bier gibt’s schon mit 16, das weißt du aber?“, sagte die Kassiererin.

Johnny kaufte sich noch ein Ticket bei einem Typen vor dem Bahnhof für den halben Preis und dann strömten wir der Menge hinterher in die Stadthalle. Gluecifer war Vorband. Berühmte norwegische Band, kannte ich dennoch nicht.
Bert flog bei der Vorband raus. Zu heftig gepogt. Muss man sich mal vorstellen, auf einem Hosenkonzert. Sind ja auch Familien hier, habe der Security gesagt, der ihn durch die Katakomben der Halle nach draußen zog.

Nach viel Bettelei durfte er wieder rein. Ich war etwas betrübt, Bert war weg und alle anderen außer Keno hatten sich auch irgendwo im Nirgendwo verteilt. Außerdem standen Keno und ich leider recht weit hinten, hinterm zweiten Bühnengraben im „Familienbereich“. Ich dachte an Edeka und wedelte albern mit meinem Ausweis hin und her.

„Ich bin jetzt achtzehn, darf ich nach vorne? Heute Geburtstag!“

Der hünenhafte Securitymann blickte auf meinen Ausweis. Nickte, streckte seine Arme aus, packte mich unter den Schultern, hob mich mit gestreckten Armen hoch, drehte sich und setzte mich im Bühnengraben ab.

„Lauf an den Rand, sag, dass ich dich geschickt habe, dann kommst du nach vorne.“

„Danke, und was ist mit ihm?“

Ich zeigte auf Keno.

„Spinnst du, der ist riesig, vergiss es.“

Ich winkte Keno zu und rannte zum Rand. Diskutierte mich dort durch und war in der ersten Welle. Beim Lied „Walkampf“ paddelte Campino auf einem Schlauchboot direkt an mir vorbei. Viele versuchten ihn zu berühren. Ich dachte nur, hoffentlich fällt er nicht auf mich drauf.

Kurz vor Ende des Konzertes waren alle Freunde wieder da. Plötzlich war der Zaun weg, sagten sie später. Nach dem Konzert mussten wir durchhalten bis zum ersten Zug. Wir vertrieben uns die Zeit im Irish Pub am Bahnhof. Billy, erfahrener Kontaktlinsenträger, friemelte mir auf der Toilette meine Linsen raus und gegen fünf Uhr saßen wir völlig erschlagen im Regionalexpress nach Leer. Die Musik blieb diesmal aus.

„Sag mal, hast du an Kassetten für die Fahrt gedacht,“ fragte Bert und holte mich aus meiner Erinnerung.

„Ne, nicht bewusst, aber selbst wenn wir keine haben, besser als bis fünf Uhr auf den ersten Zug warten, wie beim letzten Konzert.“

„Ja, wie auch immer, ich guck mal im Handschuhfach.“

Bert kramte, grinste und schob eine Kassette ins Deck.

„One morning in June
some twenty years ago
I was born a rich man’s son
I had everything that money could buy,
but freedom I had none“

Ich grinste auch. Mit David Hasselhoff auf der Suche nach Freiheit zu den Toten Hosen. El*ke, Die Happy und Silbermond waren die Vorbands. Leider verpassten wir El*ke. Als das Publikum lauthals skandierte „Wir wollen die Hosen sehen, wir wollen die Hosen sehen“ verzichtete Silbermond auf eine weitere Zugabe und die Totenkopfflagge wurde gehisst. Treffpunkt vereinbart und Bert verschwand in der Menge. Ich ging vor die Lautsprecher an die rechte Bühnenseite. Heute nur sehen und hören. Fit bleiben für die Rückfahrt. Beim vorletzten Lied „Freunde“ stand Bert völlig verschwitzt neben mir, sein T- Shirt in seinen Gürtel geklemmt. Wir sangen lauthals mit, lagen uns in den Armen und genossen die Musik, die Menge, das Gedränge und vor allem unsere Freundschaft.

Während der Rückfahrt düsten wir mit knapp 160 km/h durch die Nacht. Meine Musik war nun ein Dauerpfiepen. Bert bestand auf Rekapitulation des Abends.

„Typische Festivalsetlist.“

„Ja.“

„Feuer frei war gut, haben die bei Rock am Ring auch gespielt.“

„Ja.“

„Ich vermute, das werden die nicht mehr so oft spielen.“

„Ja.“

„Hauptsache „Mehr davon“ und „Paradies“ und „Hier kommt Alex“ haben sie gespielt“

„Ja.“

„Die Cover hätten sie sich sparen können.“

„Ja.“

„Song 2 ging aber vorne gut ab.“

„Ja, der geht immer, das stimmt. Sag mal, hast du auch so ’nen Piepen im Ohr?“

„Ne.“

Glücklicherweise hatte mich das Piepen am nächsten Morgen verlassen.