Dierk Seidel

Aus der Reihe: Vom Schwitzen, Fallen und wieder Aufstehen

Part 1: Das erste Konzert

Vor einiger Zeit sah ich auf Facebook eine Art Spiel, das so oder so in der Art immer mal wieder zu sehen ist: Poste das erste Konzert, auf dem du warst, das letzte Konzert, das lauteste und so weiter.

Bei einigen auf meiner Timeline ploppten dann Namen wie Backstreet Boys, Robbie Williams, Elton John und noch weitere dem Namen nach große oder zumindest bekannte Musiker:innen als erstes Konzerterlebnis auf. Und ich stellte mir die Frage, was bei mir anders lief, oder ob ich eine imaginäre Regel übersehen hatte, wie zum Beispiel Regel Nr. 1: „Es zählen als erste Konzerte nur die, bei denen man mindestens vierzehn Jahre und vierzehneinhalb Tage alt war.“

Ohne Regel Nr. 1 muss ich ein wenig nachdenken. Vermutlich war mein erstes Konzert ein Kinderkonzert von Jan Cornelius, Liedermacher und zeitweise sogar mein Musiklehrer aus Ostfriesland. Bei einem Konzert von ihm war ich im Rahmen eines Plattdeutsch-Festivals mit meiner Schwester auf der Bühne und wir sangen ein, zwei Lieder im Chor mit. Davor fand eine Art Kinderprogramm statt, bei dem wir auf den kongenialen Auftritt vorbereitet wurden. Ob ich wirklich mitgesungen habe oder einfach nur so dastand, ich weiß es nicht mehr. Aber ich habe es mit einem Foto ins Booklet einer CD von Jan Cornelius geschafft. Coverboy Dierk.

Größere erste Konzerte waren, puh, will ich das sagen? Die Kelly Family. Man verkaufte es gerne so, dass man da ja nur so mit hingeschleppt wurde und eigentlich gar nicht wollte. Vielleicht war es zum Teil auch so.

Ich erinnere mich noch an ein Konzert in Bremerhaven. Alle waren ganz aufgeregt. Ich hatte vorher keine Lust gehabt. Wir saßen ziemlich weit hinten auf der Tribüne in der Stadthalle. Es war noch etwas Zeit, bis das Konzert beginnen sollte und mein Vater las Perry Rhodan. Zwischenzeitlich beklagten sich meine Schwestern, dass wir ja viel zu weit hinten sitzen. Meinem Vater war das aber alles ganz recht so. Er erzählte von Konfirmanden, die bei den Toten Hosen ganz vorne waren und nannte eine Dezibelzahl, die ich nicht mehr weiß. Es soll wohl sehr laut gewesen sein. Ich stellte mir vor, dass das komplette Konzert der Hosen klang wie eine riesige Baustelle, an der alle möglichen Maschinen durcheinander arbeiteten. Erst später, als ich die Hosen schätzen lernte, begriff ich, dass meine Vorstellung eher eine Kombination aus Rammstein, Einstürzende Neubauten und Apocalyptica war. An das Konzert selbst kann ich mich nicht erinnern. Ist vielleicht auch besser so. Auch wenn ich zugeben muss, dass ganz vereinzelte Stücke der Kelly Family ganz okay sind.

Da habe ich jetzt etwas weit ausgeholt, vielleicht hätte ich doch bei Regel Nr. 1 bleiben sollen. Es zählen nur die Konzerte als erste, bei denen man mindestens vierzehn Jahre und vierzehneinhalb Tage alt war. Da beginnen die Erinnerungen zu schwimmen und es ist letztlich auch egal, wann und mit welcher Band es genau anfing. Aber wo kann ich genau sagen. Im JUZ, dem Jugendzentrum von Leer. Bei der Bandcontest-Reihe Local Heros lernte man den Pogo kennen. Bands wie Soulstice, Ignition und natürlich Footcare, die sich später in Mary Bleeds Wine umbenannten, waren unsere Local Heros. Und im Rausch der Musik wurden wir selbst zu lokalen Helden. Wir ließen uns treiben, das Aussehen war egal, die Kleidung war egal. Zumindest in der Blase, in der wir uns befanden.

Das JUZ war unsere erste Tankstelle für Live-Musik, bei der man pogen konnte, headbangen und sich fallen und gehen lassen konnte. Wenn die Musik anfing, die Sängerin oder der Sänger ins Mikro schrie, das erste Gitarrenriff ertönte, der Bass im kleinen Konzertraum vom JUZ bebte, öffnete ich mein Brillenetui, legte meine Brille hinein, schob das Etui in die Brusttasche meiner Jacke, zog den Reißverschluss zu und sprang in die Menge. Sehen war hier nicht das Wichtigste. abgesehen davon war man ohnehin meist direkt vor der Bühne. Wir schwitzten, fielen hin und halfen uns auf. Wir schwitzten, fielen hin und halfen uns wieder auf. Gingen raus, tranken Bier aus Dosen und genossen die Zeit. Und nie, aber auch wirklich niemals bekam ich mit, wer den Bandcontest gewonnen hatte.