Dierk Seidel

Aus der Reihe: Vom Schwitzen, Fallen und wieder Aufstehen

Part 4: Das erste Konzert 2021- Thees Uhlmann

Irgendwann im März oder April. Mutter ruft an.

„In der Ostfriesenzeitung stand heute, dass Thees Uhlmann im Zollhaus spielt. Das ist doch der, von dem du dir mal zu Weihnachten diese Schallplatte gewünscht hast.“

„Ja, richtig, genau der. Ich könnte morgen versuchen, Karten zu bekommen. Lust, mitzukommen?“

„Ach, ja. Das wäre doch was. Wie lange war ich schon nicht auf einem Konzert?“

„Ich probiere es mal. Vielleicht haben wir Glück. Im Moment kann ich mir eh nicht vorstellen, dass es stattfinden wird.“

Nächster Tag. Wie das Fahrradfahren verlernt man auch nie das Drücken der F5 Taste am Laptop. Seite aktualisieren. Aber bereits eine knappe Stunde vor dem Vorverkaufsstart klicke ich auf die Verkaufsseite. Nur mal sehen, wie es ausschaut. Da ist er, der Ticketlink. Rein in den Warenkorb. Kaufen, bezahlen. Alles erledigt.

Bis zum Scannen am Einlass zum Konzert am 19. Juni habe ich die Befürchtung, dass das nicht richtig funktioniert hat. Aber alles gut. Wir kommen rein.

Aber der Reihe nach.

Nach dem Testen schnell zum Zug. Der Weg von Münster nach Ostfriesland verläuft problemlos. Bis zum Abend dann obligatorisch viel Tee. Schwitzen im Garten, Sonnenbrand inklusive. Man ist ja nichts mehr gewohnt, wenn man umgeben von Beton wohnt.

Abends fragt Mutter:

„Was zieht man denn da so an? Zu Thees Uhlmann.“

Abgeklärt antworte ich:

„Ganz normal. Nix besonderes. Er wird wahrscheinlich auch nur Jeans und T-Shirt anhaben.“

Und dann denke ich an drei Dinge.

1. Daran, wie ich am Abend zuvor lange überlegt hatte, was ich zum Konzert anziehen sollte. Ich durchwühlte meine Bandshirts und blieb bei den Donots hängen. Immerhin hatte ich Thees Uhlmann beim Donots Open Air zum ersten Mal live gesehen. Das hätte gepasst. Entschied mich dann aber doch für schlicht, was anderes.

2. Was macht es für einen Unterschied, was die Künstler:innen tragen? Ich würde mein Gesicht ja auch nicht weiß schminken, wenn ich auf ein Kiss Konzert ginge.

3. Warum „nur“ Jeans und T-Shirt? Ist doch eine ganz sinnvolle Bekleidung. Kann man nicht meckern drüber. Außerdem ist Geschmack ohnehin total individuell.

Mit dem Rad fahren wir zum Zollhaus. Kurzer Gang durch die Stadt. Die Softeisbude. Verrückt, dass es die noch gibt. Der Jeans-Laden, wo ich mal Schlaghosen kaufte, wich einem anderen Hosengeschäft. Der Rest. Alles sieht fast aus wie immer und doch irgendwie anders. Am Denkmalsplatz Fernseher und Fußball. Stimmt, das gibts ja auch noch. Dann zum Hafen. Das Wasser ist noch da. Zurück zum Zollhaus. Zum Einlass.

Kartencheck, Testcheck, Maskencheck, Fiebercheck, Eincheckcheck. Boarding complete.

Platz suchen und warten. Alles ungewöhnlich. Menschen um einen herum. Innen. Ohne Masken. Mit Abstand. Alles ungewohnt.

Ca. gegen 20:42 Uhr betritt Thees Uhlmann mit seiner sechsköpfigen Band die Bühne. „Junkies und Scientologen“. Ein guter Start in den Abend. Und ich freue mich, dass direkt das erste Lied vom letzten Album ist, denn mein musikalischer Thees-Uhlmann-Weg begann erst mit dem gleichnamigen Album „Junkies und Scientologen“. Ich habe es rauf und runter gehört. Heute bin ich mir noch nicht sicher, wohin der Weg geht. So unter Menschen. In einem Raum. So als hätten wir Corona besiegt. Aber ich bin noch nicht ganz so weit. Die Angst ist noch im Hinterkopf. Und dann kommt Lied 2. „Danke für die Angst“. Und ich muss weinen. Weil es so schön ist. Mein Lieblingslied von Thees Uhlmann. Weil plötzlich alle Sorgen abfallen. Weil Musik wieder live gespielt wird. Weil alles passt.

„Club 27“, genau der richtige Song für mich, als großer Jim Morrison Fan. Und dann spielt er auch noch „Liebeslied“ von den Toten Hosen.

Meine Mama sagt irgendwann:

„Du musst mir mal die Texte zum Nachlesen geben.“

Ich versuche dann akribisch, mir die Setlist zu merken und bin froh, dass ich später noch ein Foto davon machen kann. So kann ich noch mal nachhören. Und Mama die Texte schicken. Ich mag es, wenn ich Anderen gute Musik näherbringen kann. Das freut mich.

„Die Schönheit der Chance.“ Wunderbarer Song.

Ein Tomte Lied. Tomte habe ich bis auf ein paar Lieder nicht gehört. In der Tomte-Zeit war eher Krach im Kopf. Guter Krach, aber eben Krach. Meistens. Und The Doors. Aber das ist nochmal ein ganz anderes Thema.

Zwischen den Liedern erzählt Thees Uhlmann über Dinge. Über eine Hip-Hop Band aus Leer (102 Boyz). Nie gehört. Über Coronapartys, die man mit Lieferando Jacken tarnen könne. Über seinen Tag in Leer. Und man nimmt ihm ab, dass er Leer und die Leeraner sympathisch findet. Das ist auch nicht schwer.

Ich habe etwas Zeit gebraucht, um das zu merken. Es war nichts schlecht, aber dennoch wollte ich nach dem Abi raus aus der Kleinstadt. In eine größere Kleinstadt. Es sollte alles anders sein. Und jetzt komme ich gerne wieder her. Nicht oft. Coronabedingt noch seltener. Und dann leider meist zu kurz, um Freund:innen zu treffen. Aber wenn ich jetzt in die Stadt komme, dann merke ich, dass die Stadt sympathisch ist.

Ein Lächeln im Gesicht, wenn der Zug über die Ledabrücke in die Stadt einfährt. In Gedanken sage ich dann: „Moin.“ Ein Lächeln, wenn Thees Uhlmann erzählt, dass er nachmittags eine lange Schlange vor der Softeisbude sah. Diese eine Softeisbude, die schon immer da war.

Ich weiß nicht mehr genau wann, aber irgendwann stehen wir bei den meisten Liedern. Beim Stehen immer mit Maske! Wichtige Regel. Wir tanzen und singen mit. Ein paar Zugaben und am Ende sendet der Satellit leise und ein schöner Abend geht zu Ende.

Ein guter Abend war das. Für Mama, mich und alle anderen, die heute dabei sein durften. Danke, Thees Uhlmann, für diesen Abend und danke an Marco und das Zollhausteam, dass ihr dem Zollhaus so wieder Leben einhaucht. Es war so, als hätten wir Corona besiegt. Durch Musik. Wenigstens diesen einen Abend.