Dierk Seidel
Time goes Bücherei
Irgendwann früher …
Das Kind drückte seinem Papa den Fahrradhelm in die Hand und er schloss ihn mit den übrigen Dingen ins Schließfach. Dann gingen sie eine kleine Rampe hoch, aus dem Entleihbereich in den ersten Büchereiraum. Rechts waren CDs und links DVDs. Neben dem DVD-Regal führte eine Treppe hoch zum Kinderbuchbereich. Blickte man geradeaus, kamen viele Regalreihen mit Büchern.
„Guck mal, Papa. Jetzt weiß ich auch, warum es Bücherei heißt. Weil die Bücher alle in Reihen stehen.“
Ich musste grinsen, als ich das hörte und war neugierig auf die Antwort.
„Das ist eine gute Herleitung, aber was ist denn mit Bäckereien und Tischlereien?“
„Ach, das ist doch ganz einfach. Ich erkläre es dir.“
Leider bogen die beiden dann ab und gingen die Treppe zum Kinderbuchbereich hoch, während ich darauf wartete, dass meine wöchentliche Ausleihe gescannt wurde.
Mit meinen Büchern, Musik und Filmen fuhr ich nach Hause.
Und irgendwie heute…
Wenn ich mich heute zurückerinnere, an die Stadtbibliothek meiner Kindheit und Jugend, sind es nur gute Erinnerungen. Als Kind zog es mich immer wieder zu einem Buch, das ich vermutlich gar nicht so oft auslieh, sondern meist vor Ort durchblätterte, während meine Mutter oder meine Schwester sich Bücher zum Mitnehmen aussuchten. Dieses Buch heißt „Der Bär, der ein Bär bleiben wollte.“ Es handelt von einem Bären, über dessen Höhle während seines Winterschlafs eine Fabrik errichtet wird. Durch den Lärm wacht er auf und wird für einen unrasierten Arbeiter gehalten. Man glaubt ihm nicht, dass er ein Bär ist, und so wird er in die Produktionsmaschinerie gezogen. Mehr möchte ich nicht verraten. Sucht es und lest es. Es ist sicherlich kein Wohlfühlbuch und ich kann auch gar nicht genau erklären, warum es mich als Kind so faszinierte. Gut, ich bin ein großer Bärenfan, aber das kann ja nicht alles sein. Vielleicht fieberte ich jedes Mal aufs Neue mit ihm mit. Schaffte er es aus diesem grauen Trott heraus? Ich hoffte es sehr.
Im Onlinekatalog meiner alten Stadtbibliothek finde ich es nicht mehr. Es ist ja nun auch schon ein paar Jahre her. Umso mehr freut es mich, dass meine Frau mir das Buch vor ein paar Jahren geschenkt hat.
Ein paar Jahre später zog es mich in die Stadtbibliothek, um Musik und Filme auszuleihen. Doch häufig setzte ich mich auch auf einen Sessel mit orangenem Bezug, der am Ende zweier Bücherregale an der Außenwand stand. Es muss ungefähr die vierte oder fünfte Regalreihe gewesen sein. Der Bereich für Musik. Ich suchte mir hier Noten- und Akkordbücher aus, um später Lieder mit der Gitarre nachzuspielen. Und ich las mir immer wieder ein Buch über die Musiker:innen und die Hippie-Bewegung der 1960ziger Jahre durch. Ich verschlang die Texte, betrachtete die Bilder, und stellte mir die Lieder vor, die beschrieben wurden. Manchmal lieh ich mir im Anschluss dann die passende Musik aus. Frank Zappa, Fleetwood Mac, Led Zeppelin, Jimi Hendrix, Janis Joplin und weitere. Jim Morrison und die Doors wurden nur am Rande erwähnt, Jim Morrison hielt nicht allzu viel von der Hippie-Bewegung, aber das wusste ich ohnehin schon aus diversen anderen Büchern über die Band. Das war die Zeit nach der Konfirmation, in der ich zum ersten Mal die Haare wachsen ließ, Schlaghosen trug und mit meinem Vater Easy Rider geschaut hatte. Ein wichtiger Film, der mir damals sehr im Gedächtnis blieb. Das Ende, aber auch der „Freiheitsdialog“ (hier nachzulesen: https://www.medienkorrespondenz.de/ansichten-sachen/artikel/easy-rider-und-die-angst-vor-der-freiheit.html ) wirkten nach. Aber auch durch viele andere Aspekte und die Musik blieb der Film mir im Gedächtnis. Ich habe ihn noch oft gesehen.
Freitagsnachmittags tauchte ich auf dem Sessel mit dem Buch in den Händen in eine andere Zeit und manchmal, erst nach Stunden, kurz vor 18 Uhr, kam ich wieder in die Gegenwart zurück.
Zwischen diesen beiden Phasen gab es noch eine Zeit, in der ich mir regelmäßig „TKKG“-, „Die drei ???“- und „Enid Blyton“-Bücher aus der Petrusbücherei, der Bücherei meiner damaligen Kirchengemeinde, auslieh. Ich bin mir sicher, es gab noch wesentlich bessere Bücher dort. Aber mir reichte die Auswahl. Immer mittwochs hin, ausleihen und sonntags nach dem Gottesdienst die Bücher wieder zurückgeben. Sie lasen sich schnell und so habe ich die Bücher viel früher als die Hörspiele kennengelernt.
Bibliotheken laden zum Verweilen ein, konnten aber im Studium auch arg stressen. Schaffte ich zu Hause nichts, dann fuhr ich in die Uni Bibliothek und versuchte da mein Glück. Immerhin entdeckte ich so zwischen den Gängen Edgar Hilsenraths Bücher. In der Germanistikbibliothek in Münster, in der ich Teile meiner Masterarbeit schrieb, hatte ich einen wunderbaren Blick auf das Schloss. Aber zum Verweilen lud auch diese nicht ein.
Die Stadtbibliothek Münster hat stellenweise ein ähnliches Feeling wie die Bücherei meiner Heimatstadt Leer. Ab und an habe ich Phasen, in denen ich für ein bestimmtes Thema brenne und dann alles darüber aufsaugen will, dann streife ich durch die Gänge der Bibliothek und komme mit einem Stapel Bücher nach Hause, durchforste diese und wenn ich sie zurückbringe, hat sich das Thema vorerst erledigt. Auch ein guter Weg etwas aus dem Kopf zu bekommen. Durch Zufall entdeckte ich hier in Münster das Buch „Über das Leben und Schreiben“ von Stephen King. Eines der wenigen Bücher von King (ja, ich habe da noch welche auf meinem Zettel), die ich gelesen habe. Mehrfach. Doch immer zu Hause. Denn klar, Münster, größere Stadt, da sind auch viel mehr Menschen in der Bibliothek und gerade das Zurückziehen an das Ende des Ganges in die fremde Zeit, ging damals in der Jugend nur so gut, weil es ruhig war. Aber vielleicht war ich auch ruhiger. In meinen Gedanken. Meine Gedanken ohne Hektik. Kein Problem.
Vor ein paar Jahren durfte ich in der Stadtbibliothek in Münster bei einem Poetry Slam auftreten. Zwischen Büchern lesen. Laut. Es war eine besondere Atmosphäre. Lesungen zwischen Büchern. Eine gute Sache. In meiner Schule fanden, zumindest vor Corona, die Vorlesewettbewerbe in der Schulbücherei statt. Ein treffender Ort. Und auch sonst ist unsere Schulbibliothek ein schöner Ort. Vor Corona, als sie noch ohne Einschränkungen genutzt werden konnte, saßen die Kinder auf großen Sitzsäcken, tauschten sich leise (meistens) aus, lasen Bücher, blätterten auch einfach nur drin rum. Und manche schlugen eine Seite auf, lasen ein paar Zeilen und verschwanden in ihren Träumen. Einfach eine Auszeit aus dem Trubel, bevor der Nachmittagsunterricht begann. Im Moment ist alles eingeschränkt. Nervig, aber nachvollziehbar. Tausend neue Regeln, ein Ort zum Träumen und Verweilen kommt zu kurz. Doch ein paar Kinder finden auch auf dem Schulhof einen Ort zum Lesen. Zum Gedankentreiben und Treibenlassen. Zum Verweilen in fremden Zeiten und an fremden Orten. Ich finde es faszinierend, alles kreist um sie herum, alles schreit um sie herum und sie lesen. Um sie Hektik, ihre Gedanken ohne Hektik. Kein Problem.
Und für alle anderen, die den Ort brauchen, die Bücherei, zum Lesen und zum Träumen, kommt nochmal die Zeit. Ich habe Hoffnung, sie kommt, ganz bestimmt.