Dierk Seidel

Schmetterlinge

Du gehst ein paar Meter vor mir, das ist in letzter Zeit häufig so. Ich habe dann oft das Gefühl, ich sei zu langsam, aber du bist nur zu schnell. Wir spazieren seit einigen Stunden durch den Wald, du immer ein wenig voraus. Vielleicht ist es okay so. Du hältst an. Ich erreiche dich. Wir stehen nebeneinander und schauen einen Abgrund herunter auf einen riesigen See. Du nimmst meine Hand und sagst: „Wenn wir Schmetterlinge wären, könnten wir hier einfach drüber fliegen.“

„Warum Schmetterlinge, hier sind weit und breit keine Schmetterlinge?“

„Ach, die kamen mir gerade in den Kopf.“

Ich drücke deine Hand etwas fester.

„Lass uns zurückgehen. Es wird bald dunkel.“

„In Ordnung, ich mache nur kurz ein Foto“, sagst du. Du nimmst deine analoge Kamera, fokussierst den See und drückst ab. Danach gehen wir denselben Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich lasse deine Hand nicht los, so haben wir ein gemeinsames Tempo. Der Himmel färbt sich von Blau zu Grau bis hin zu einer sternenklaren Nacht. Der Mond und die Sterne zeigen uns den Weg, immer wieder schauen wir nach oben. Gegen 23 Uhr kommen wir bei unseren Fahrrädern an. Dieser Weg war viel für uns. Wir radeln die sieben Kilometer Landstraße bis zum nächsten Bahnhof schweigend und erreichen gerade noch den letzten Zug.

„Wir hätten uns vielleicht vorher erkundigen sollen, wo wir eigentlich hinwandern und wie lange das dauert“, sagst du, während wir uns auf die Klappsitze neben unsere Räder setzen.

„Ja, ich bin ganz schon kaputt.“

„Zuhause können wir uns ausruhen“, sagst du.

Doch zuhause hast du eine Energie, die ich nicht fassen kann. Du willst noch deinen Film entwickeln in deiner Dunkelkammer. Ich gebe dir einen Kuss und gehe schlafen.

Am nächsten Morgen stehe ich, wie meistens, vor dir auf, koche Teewasser und scrolle durchs Netz. Mit einer Tasse Tee setze ich mich an meinen Platz in der Küche. Dort liegt das Foto, das du zuletzt geknipst hast. Der See, ein wenig vom Rand des Abgrunds und präsent und mittig ein gelber Schmetterling.