Sarah Chiyad

Schlaflos in Münster

In meinem Appartement hat sich etwas eingenistet. Es hat einen eigenen Herzschlag, schneller als mein eigener. Es lässt mich nicht schlafen, so laut ist es. So fordernd. Doch wenn ich es suche, ist es plötzlich still. Was es ist und wie ich es zuerst gefunden habe, davon handelt diese Geschichte.

Sarah Chiyad Kurzgeschichte – Schlaflos in MünsterIch war noch nie ein Mensch mit einem gesegneten Schlaf. Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, bis mich der treue alte Kühlschrank in meinem Appartement nachts nicht mehr weckte. Denn er gehört zu der Sorte Mitbewohner, die sich hin und wieder durch ein lautes Räuspern bemerkbar macht. Danach grummelt er immer noch ein bisschen, so als erwarte er für die unglaubliche Anstrengung, meinen Käse genießbar zu halten, verdammt noch mal etwas mehr Anerkennung. Von dem Ticken der beiden asynchronen Uhren in meinem Raum – man sollte sich weder auf die eine noch auf die andere verlassen – fang ich gar nicht erst an.

All die Geräusche meiner gemütlichen Höhle werden des Nachts zu einer Symphonie, die mich nach langer Gewöhnung inzwischen mehr oder weniger sanft in den Schlaf singt. Aber wehe es kommt etwas anderes hinzu! Dann regt sich mein inneres Erdmännchen, mein Spirit-Animal. Aufrichten, Ohren spitzen und auf die Flucht vorbereiten.

Nun soll es hier ja um die Nacht gehen, die meinen Schlafrhythmus und noch so einiges anderes völlig durcheinandergebracht hat. Und alles beginnt mit einem eben solchen fremden Geräusch.

Ein Rascheln mischt sich unter das Surren des treuen Kühlschranks. Eines dieser verdächtigen Geräusche, die man vor allem nach dem Schauen von Horrorfilmen hört und die wirklich alles bedeuten können. Meistens bedeuten sie aber rein gar nichts.

Ich beschließe meine Erdmännchennatur zu zügeln und es zu ignorieren. Immerhin will ich am nächsten Tag noch einen Text schreiben. Wie die ganze letzte Woche ist das Überwinden der Schreibblockade fest in die To-Do-Liste eingetragen. Etwas mehr Schlaf, das ist sicherlich die Lösung. Also ziehe ich die Decke über den Kopf und drehe mich um. Nach kurzer Zeit ist es wieder still.

Zwei Stunden später ist das Rascheln wieder da, nur lauter. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Zwischenzeit geschlafen habe. Das Geräusch ist aufdringlicher geworden und endlich weiß ich, woran es mich die ganze Zeit latent erinnert hat: Winter auf dem platten Land. Wenn es für die Ameisen zu kalt wird, flitzen die Mäuse ins Haus. Oh Fuck.

«Dieses Appartement ist nicht groß genug für uns beide», denke ich. Ehrlich gesagt, ist es nicht einmal groß genug für mich allein. So beschließe ich, etwas gegen den ungebetenen Gast zu unternehmen. Ich taste nach meiner Brille, wische dabei die Brillendose vom Nachttisch, die scheppernd auf den Boden fällt. Mein verkümmerter Jagdinstinkt meldet sich oder ist es das furchtsame Erdmännchen, das da aus mir spricht? Egal, in beiden Fällen heißt es: Bloß keine weiteren Geräusche machen. Also setze ich mich vorsichtig auf, schalte nach kurzem Zögern das Licht an und fische die Brille aus der aufgeplatzten Plastikdose. Als ich aufstehe, gibt mir das Lattenrost mit einem lauten Knatschen zu verstehen, dass ihm die Störung der Nachtruhe genauso missfällt wie mir. Mit nackten Füßen tappe ich über das Laminat – wusste gar nicht, dass das auch knatscht – in Richtung Schreibtisch, wo ich die Quelle der Laute vermute. Ich krame eine kleine Taschenlampe aus der Schublade und suche ihn damit ab. Drunter, drüber, in den Ritzen. Nada. Kein Wunder – bei dem ganzen Lärm hätte ich mich als Mäuschen auch verkrochen.

Soll ich wach bleiben? Vielleicht kommt es ja wieder? Ich denke an meinen Plan für den morgigen Tag und lege mich mit klopfendem Herzen wieder hin. Vielleicht habe ich ja wieder Ideen, wenn ich meinen Schreibtisch mal vernünftig aufräume, denke ich. Dann haben sie auch nicht mehr so viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.

Ich krieche unter die Decke und lasse meine Gedanken kreisen. Die Brille liegt griffbereit neben einem Rhetorikbuch auf dem Nachttisch. Diese Schlacht habe ich verloren, aber es gibt noch einen Krieg zu gewinnen. Beim nächsten Mucks werde ich vorbereitet sein. Meine Haut kribbelt irgendwie und auch wenn es still ist, habe ich das Gefühl, dass etwas winzig Kleines mit mir unter die Bettdecke gehuscht ist und immer wieder meine Gliedmaßen streift.

Dass ich tatsächlich eingeschlafen bin, merke ich erst, als ich knapp zwei Stunden später wieder aufwache. Die Maus läuft damit offiziell zuverlässiger als beide meiner Uhren. Den Lauten zufolge knabbert sie gerade genüsslich an der Verkabelung unterm Schreibtisch. Ich halte kurz inne, als mein Blick auf die verschwommenen Kartoffeln und Äpfel fällt, die ich aus Platzmangel in einem Karton auf dem Boden lagere. Ich schaue vom Karton zum Schreibtisch und wieder zum Karton und stelle ernsthaft die Ernährungsgewohnheiten des Tiers in Frage. Hmmm… Lecker Kabel.

Im Nu bin ich mit Brille und Taschenlampe ausgerüstet. Innerer High-Five, weil ich es diesmal geschafft habe, ohne das ganze Haus aufzuwecken. Über den knarzenden Boden schleiche ich wie eine Raubkatze auf das Knabbern zu. Da entdecke ich sie, in der Ecke zwischen Heizung und Schreibtisch. Ein Teil der Plastikisolierung des USB-Kabels, das sie in ihren winzigen Pfötchen hält, hängt in ihren Tasthaaren. Für einen kurzen Moment schauen wir uns tief in die Augen. Ich Tom – du Jerry.

Innerer Face-Palm. Vielleicht hätte ich mir einen Plan machen sollen, was ich mit dem Tier anfange, wenn ich es finde. Ich kann es ja schlecht mit meiner Winz-Taschenlampe aus der Wohnung herausleuchten. Jerry spürt meine momentane Überforderung, nimmt noch einen kräftigen Biss vom USB-Kabel – leider kein Stromkabel – und flitzt davon. In meinem Kopf höre ich einen alten Ragtime.

Besser als Kaffee, so ein Jerry. Jetzt bin ich zumindest wach. Hat auch mal was, vor dem Sonnenaufgang aus dem Bett zu sein. Zuerst bringe ich Äpfel und Kartoffeln in Sicherheit und begebe mich dann auf eine gründliche Suche. Vielleicht kann ich die Maus ja irgendwie hinausjagen. Dann ist sie das Problem der Nachbarn.

Also rücke ich den Schreibtisch von der Wand und als ich dort nicht fündig werde, inspiziere ich Küchentheken, Kleiderschrank und Bettkasten. Am Ende schaue ich sogar IN den Kühlschrank. Aber bis auf das verstümmelte Kabel deutet nichts mehr darauf hin, dass sie je dagewesen ist.

Eine andere Strategie muss her. Schreibe einer Freundin, die Frühaufsteherin ist und zwei glückliche Rennmäuse hält: «Habe ein neues Haustier, wenn du’s findest, darfst du’s behalten.» Sie beißt nicht an. Hätte ich auch ohne den vor Lachen heulenden Smiley verstanden, Dankeschön.

Versuche mich abzulenken bis es spät genug ist, andere Freunde mit dem Thema zu nerven. Lese das Buch über Rhetorik auf dem Nachttisch: Kunst der Manipulation. Lese, dass man sich für andere attraktiv machen sollte, damit sie tun, was man von ihnen will. Vielleicht, wenn ich mich mit dem Camembert im Kühlschrank einreibe … entnervt werfe ich das Buch aufs Bett.

Ich bin eine Schande für alle Raubtiere. Mittlerweile habe ich drei verschiedene Fallen aufgestellt, eine davon mit dem letzten Rest Nutella aus meinem Vorrat, weil jemand meinte, dass die Viecher das mögen. Stunde um Stunde bleiben die Fallen unberührt, doch das Rascheln kommt immer wieder.

Ich muss mich wohl damit abfinden, dass die Maus jetzt bei mir wohnt. Und in regelmäßigen Abständen wird mich ihr drängendes Nagen an den Schreibtisch ziehen, wo ich das einzige aus ihr mache, wozu ich in der Lage bin: eine Geschichte.

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