Sarah Chiyad

Reset

Ich falle nicht. Das ist unerwartet, ein bisschen gruselig. Irgendwie bin ich in der Luft stecken geblieben. Aber ich werfe noch einen Schatten, bin also noch ein fester Körper – so I got that going for me, which is nice.

Doch Körper schweben nicht einfach so. Die Luft um mich herum muss fest geworden sein. Zumindest sind Teilchen daran festgeklebt, sodass ich mich fühle, als schwebte ich in einer gewaltigen Kunstinstallation aus Metallfetzen und Glassplittern, zu träge, um auf den Boden zu fallen.

Das Highlight der Installation ist wohl mein Schneidezahn. Oder vielmehr das Bruchstück davon, das wie eine bizarre Sternschnuppe mit einem dünnen Schweif aus Blut aus meinem Mund schießt. Was uns der Künstler damit sagen will? Fuck.

Seelenruhig hocken ein paar Kaninchen, inoffizielle Maskottchen meiner Stadt, auf der Grasfläche des Kreisels. In der Bewegung eingefrorene Ludgeriplatz-Veteranen, die in der würdevollen Tätigkeit des Grasmümmelns verharren, ohne sich vom Lärm, der entstanden sein muss, beunruhigen zu lassen.

Sarah Chiyad Kurzgeschichte: ResetJetzt ist die Welt frei von Lärm. Es geht kein Windzug und auch sonst spüre ich nichts. Soll es das wirklich schon gewesen sein? Ich meine, müsste ich nicht meine Oma sehen oder ein helles Licht? Oder mein kümmerliches kleines Leben in einem Zeitraffer, eine Aneinanderreihung von Nichtigkeiten? Das Konzept habe ich eh nie so richtig verstanden. Selbst im Schnelldurchlauf müssten die ewigen Shoppingtrips für Dinge, die ich eigentlich nicht brauchte oder die ich nach langem Überlegen doch zurückgelegt habe, die am Iphone verdaddelten Seminare und Vorlesungen, all die kleinen Alltagslangweiligkeiten wie ein schlechter Witz aussehen. Gähnend langweilig, lieber nochmal die Mails checken.

Und sollte ich nicht Schmerzen empfinden? Also irgendwo auf der Skala zwischen Verdammnis und Fegefeuer? Nicht, dass ich mich darum reiße.

Do you know, what really grinds my gears? Nicht zu wissen, was gerade abgeht. Seriously. Was soll das?

Aus den Augenwinkeln sehe ich meine Armbanduhr. Selbst in dieser Situation kann ich mich nicht gegen den Reflex wehren, nach der Zeit zu schauen. Könnte ich gerade meine Lippen bewegen, würde ich wohl schief grinsen. Alle drei Zeiger sind auf Punkt 12 stehen geblieben. Wenigstens mein Ableben scheint einen Sinn für Pünktlichkeit zu haben. Oder vielleicht Sinn für Humor. Ein Sprung zieht sich wie eine ruckelige Weggabelung über das Glas. Road not taken.

Vielleicht hätte ich auch die road less travelled by nehmen sollen. Das hätte mich wohl auch vor dem Zusammentreffen mit diesem besonderen Autofahrer bewahrt. Sein Mund ist zu einem blöden O aufgerissen. Die linke Hand krallt er um das Lenkrad, während unter der rechten das fallende Smartphone hängt. Hätte dieses verdammte Gespräch nicht warten können? So wichtig bist du auch nicht. Wichser. Leider kann er mich nicht hören. Ich kann meine Gedanken kaum selber hören. Sie klingen in der absoluten Stille hohl, hallen gegen die Wände meines Schädels wider.

Das ist doch alles nicht fair. Eben noch – oder ist es eine Ewigkeit her? – wusste ich: Wenn ich den Unikram fertig hab, dann hab ich wieder ein Leben. Und jetzt? Was, wenn ich für immer hier hängen bleibe? Ist das vielleicht sogar meine persönliche Hölle? Die ultimative Strafe für die Todsünde der Trägheit?

Vielleicht, ganz vielleicht falle ich gleich einfach runter. Ein paar Prellungen, ein bisschen was verrenkt oder ein zwei Brüche und nach ein paar Wochen ist alles wieder gut. Dann laufe ich halt ein paar Tage mit Krücken, so what? Die Pause tut mir auch mal gut. Und so schnell stirbt es sich doch nicht, oder? ODER?

Meine Haare sind wie stumm tanzende Hippies um meinen weit nach hinten geneigten Kopf stehen geblieben. Die rote Pudelmütze, die ich undankbares Wesen meinem Helm vorgezogen habe, hat die Verbindung mit meinem Kopf aufgekündigt. Nicht meine Aufgabe, not my fucking problem. Sie ist beim Abprallen an der Motorhaube stecken geblieben, hat dem Auto eine Clownsnase aufgesetzt. Meine Beine sind noch mit dem Fahrrad verkantet. Man könnte mittlerweile auch von einem Klapprad sprechen.

Hätte ich gewusst, wie wenig Zeit mir noch bleibt, was hätte ich nicht alles machen können? Dinge erschaffen, die es wert sind, hinterlassen zu werden. Endlich diesen dämlichen Roman schreiben, ein neues Leben in die Welt setzen… Bleibt etwas übrig, wenn ich endlich auf den Asphalt falle? Lohnt es sich, mich zu vermissen? Also länger um mich zu trauern als es dauert, einen Sarg in ein ausgehobenes Grab herunterzulassen und frische Erde darauf festzutreten?

Plötzlich bewegt sich eines der Kaninchen. Da! Seine Schnauze zuckt, kauende Bewegungen. Es starrt mich an, leere Augen. Es verurteilt mich.

Das Kaninchen ist das erste, das sich aus dieser Anomalie in der Zeit herauskämpft. Womöglich hat es eine besonders kämpferische Seele oder wird gerade irgendwo wiedergeboren (wenn es an sowas glaubt). Zumindest kann es nun beobachten, wie sich die Umgebung um die in dem Unfall stecken gebliebenen Personen langsam wieder in Bewegung setzt. Es ist, als hätte sich eine Thrombose im Strom der Zeit gebildet, ein kurzfristiger Stillstand (obwohl die Dauer eines Stillstands der Zeit offensichtlich nicht zu messen ist). Nach und nach werden nun die Arterien wieder frei geräumt. Zuerst brechen die kleineren Glas- und Metallteilchen auf, schwerfällig, so als träten sie nach einem anstrengenden Aufenthalt die erschöpfte Reise zurück zum Mutterschiff Auto an. Immer größere Teile rühren sich, sodass die kleinen Pioniere bald von einer gemächlichen Karawane begleitet werden. Langsam werden auch die schwereren, trägeren Körper mitgerissen. Zeitlupengeräusche bahnen sich mit zähem Ringen ihren Weg zurück in das Geschehen.

Auch die junge Frau entflieht ihrer Starre. Zuerst reist die Sternschnuppe zurück zum Gaumen, wird die wunderliche Ankunft wieder verschoben. Dann bewegt sich ihr ganzer Körper, als werde er von unsichtbaren Händen getragen. Mit ihr neigt sich auch das verbogene Fahrrad dem Auto zu. Es sieht aus, als würde ihr Kopf in einem schwungvollen Bogen von der Motorhaube angezogen. Als er darauf trifft, windet er sich passgenau in die rote Mütze, die sich fest an ihre alte Besitzerin klammert. Der linke Arm und das linke Bein passen sich der Rundung der Front an, wie auch das Fahrrad.

Ein verzerrter Knall. Da wandert das Smartphone zurück in die Hand des Fahrers, seine Lippen entspannen sich. Nach und nach rollt der schwerste Körper, das Auto, zurück. Und in dem Maße wie die Distanz zunimmt, werden verkrümmte Fahrradteile und Gliedmaßen geebnet. Die junge Frau sitzt nun mit schockstarrer Mimik gerade auf dem Fahrrad. Die Sorgenfalten glätten sich, sie wird in fließenden Bewegungen zurückgezogen, wie auch alle anderen Beteiligten dieser Zeitanomalie. Das ganze geschäftige Treiben des Tages wird wieder in seine Ausgangsposition zurückgedrängt.

Am besten nehme ich den schnellen Weg über den Kreisel. Ich bin eh schon wieder viel zu spät dran. Wenn ich den ganzen Kram endlich erledigt habe, habe ich wieder sowas wie ein Leben. Gleich danach gehe ich mit den anderen feiern. Anstoßen!

Eine Minute vor Zwölf, crap. Wo kommt denn jetzt der Riss her? Er sieht ein bisschen aus wie eine Weggabelung, two roads diverged in a yellow wood … Ich habe das Gefühl, ich sollte mich an etwas unheimlich Wichtiges erinnern.

Der letzte Kommentar und 8 weitere Kommentar(e) müssen genehmigt werden.
0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert