Jonas Ohland

„Progressiv“ – Was ist das eigentlich?

Progressiv: „Fortschrittlich/ Sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernd, entwickelnd“

– Duden

Progressiv ist ein Wort, das sicher jeder schon gehört hat, in den meisten Fällen sogar aus der Musikecke. Progressive Rock – das kennt man irgendwie. Vielleicht hat man sogar einmal von Progressive House gehört, wenn man der elektronischen Szene nicht gänzlich fern ist.

„Und, wie hört sich Progressive an?“

„…“

Genau: Keine Ahnung. Das könnte daran liegen, dass es keinen typisch progressiven Sound gibt, auch wenn man in der elektronischen Szene mittlerweile eine bestimmte Klangrichtung mit dem Namen assoziiert. Was hat es also auf sich, mit „Progressive“? Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Art, einen Song zu strukturieren. Laut Duden bezeichnet Progressivität eine stetige Entwicklung, eine Steigerung. Der Name ist Programm, einen progressiven Musiktitel erkennt man daran, dass er von einer flachen, aber stetigen Klangentwicklung geprägt ist. Musikalisch steht Progressivität somit der berühmt berechtigen „Drop“-Mentalität gegenüber, für die die EDM-Szene ja mittlerweile bekannt ist. Und damit befinden wir bereits an der Wurzel eines elementaren Konflikts von EDM:

Drops VS. Progressive – Was ist besser?

Aua, jetzt stellt der Ohland schon wieder hässliche Fragen. Aber machen wir erst einmal einen Schritt zurück und fragen uns, wofür wir die elektronische Musik hören. Das ist nicht schwer zu erraten, wenn man einen Blick auf Musikfestivals wirft: Wir wollen uns in Ektase versetzen. Selbst, wenn wir die bunten Pillen aus der Diskussion weglassen, trifft das den Kern ganz gut. Wenn 100.000 Menschen oder mehr sich treffen, dann tun sie das meist nicht aus philosophischen Gründen.

Es gibt verschiedene Elemente in der Musik, die einen in Ekstase versetzen können. Ein Vorreiter sind da gezielte Überraschungen, kleine Schockmomente, die einen immer wieder kitzeln. Natürlich kommen die bekannten Produzenten dann schnell auf die Idee, dass mehr Schock mehr Ekstase im Publikum entspricht. Dann sind wir auch schon bei der Motivation hinter den Drops, den Impacts und Kanonenschlägen, die man nicht nur aus Dubstep und Bigroom kennt. Und das funktioniert ja auch – auf seine Weise. Ich finde eine flashig-verfrickelte Bass-Massage durchaus reizvoll. Und circa 500 Millionen weitere Menschen auf diesem Planeten auch.

Nächste Frage: Wie lange funktioniert das?

Ein Bassschlag nach dem Anderen kann recht schnell ermüdend wirken, wenn man sich nicht auf chemische Substanzen verlassen will. Vielleicht hat die Reizüberflutung auch irgendwann einen Gewöhnungseffekt, es schockt nicht mehr so recht. Oder noch viel schlimmer: Man geht in den Club, hat den Alltag noch im Nacken und ein Innovativer DJ mit Macbook und Beats by Dr. Dre auf dem Kopf schleudert mit Drops um sich, als seien es Konfetti – das kann schnell nervig werden. Ich kann nicht auf einen 120 Sachen schnellen Bus aufspringen oder mit einem Schritt den Mount Everest besteigen.

Einen sehr viel eleganteren Weg für diesen Fall bietet die progressive Musik. Oft wird damit ein warmer, sommerlicher Klang verbunden, was aber nicht Teil der Definition ist. Schauen wir uns mal einen Beispieltitel von einer Progressive House Größe an: „Strobe“ von Deadmau5. Was fällt uns als erstes auf? Der Titel ist über 10 Minuten lang. Kein Vergleich zu den typischen vier Minuten einer Bigroom-Nummer. Der Künstler lässt sich offenbar Zeit. Das wird auch beim Intro klar. Satte drei Minuten und fünfzig Sekunden sind reine Vorbereitung auf den Rest der Nummer. Viele andere Titel sind hier schon durch ihre beiden Höhepunkte durchgerauscht und klingen aus. Aber ohne wie ein Playboy wirken zu wollen: Jeder wird mir bestätigen, dass ein ausgiebiges Vorspiel im Bett einen ganz bestimmten Zweck verfolgt.

Weiter im Takt. Wenn der Beat bei etwas über 3:50  einsetzt, dann ohne Bassanteil. Was ist da los? Die Kickdrum schlägt einem ja gar nicht den Schädel ein – achso, Progressivität. Verstehe. Auch hier wartet Deadmau5 ein wenig ab, bis er den Subbass dazu mischt. Ganz ohne Hektik. Und dann kommt auch schon der nächste Break, der ein wenig die hohen Frequenzen und die Lautstärke rausnimmt und somit einen Raum für Dynamik freigibt. In weiten Teilen der EDM-Szene ist Dynamik ja mittlerweile ein Fremdwort. Hört ihr diese Melodie, die da auf einmal aus dem Hintergrund spielt? Schön, oder? Und da ist die Bassdrum wieder. Druckvoll, aber nicht aufdringlich. Eine Herzmassage. Und gleich kommt diese melancholische Melodie wieder, ich glaub ich bin high.

Ja, was soll ich sagen, da ist es passiert. Euphorie, ganz ohne Drop. Oder formulieren wir es anders, Eurphorie, weil ganz ohne Drop. Der Titel hat sich Zeit gelassen, einen auf dem Basiselement einzufangen. Man merkt am Anfang nicht, wie es passiert, aber doch bleibt man drauf kleben. Die stetige Klangentwicklung verhindert, dass es langweilig wird und schubst einen Millimeter für Millimeter weiter, kitzelt die Nerven und bringt einen auf ein höheres Level, als es der brachialste Dubstep-Drop jemals tun könnte. Ich hoffe inständig, ihr habt nicht geskippt, ansonsten brecht das Lesen an dieser Stelle ab und gebt euch den Titel noch einmal auf guten Kopfhörern in aller Ruhe. Augenschließen, zurücklehnen und wirken lassen.

Sehr schön. Eigenständige Titel sind übrigens nicht das Einzige, was eine gewisse Progressivität aufweisen kann. Denken wir mal an einen Abend im Club. Der DJ spielt mäßig interessante Tech-House Titel mit sporadischer Melodie, ohne Text … langweilig? Vielleicht. Die ersten gehen bestimmt schon nach der ersten Stunde nach Hause, weil kein David Guetta gespielt wird. Aber ohne dass man es merkt, zieht der DJ die Schraube immer weiter an. Stückchen für Stückchen. Das funktioniert nicht für jeden. Einige sind schon völlig drauf, aber du stehst da, nickst mit und fragst dich, ob zwei oder drei Folgen Game of Thrones vielleicht eine bessere Zeitinvestition gewesen wären. Doch dann ändert der DJ was. Auf einmal spielt da so ein geiles Element mit im Beat. Ein geschickter Drumloop, ein Vocal oder ein Synthesizer-Klang, völlig egal. Es ist so anders und verspielt, du kannst es gar nicht fassen. Auf einmal hast du dieses fette Grinsen im Gesicht und weißt nicht mehr, wo dir die Sinne stehen, so unglaublich geil ist dieser Track.

Am nächsten Morgen hörst du dir den Titel noch einmal an, aber irgendwie ist es nicht mehr das Selbe. Eintönig und langweilig klingt er, so gar nicht mehr genial und innovativ. Merkst du, was passiert ist? Diese belanglosen Titel, die der DJ am Anfang des Abends gespielt hat, waren alles nur Vorbereitung dafür, dass du genau diesen einen Track so unglaublich gut genießen konntest und der Rest des Abends ein Deut besser geworden ist. Jeder einzelne Titel davor war wichtig dafür, dass es funktioniert. Und womöglich warst du der Einzige, bei dem es auf diese Weise funktioniert hat, vielleicht war es für Andere ein Titel, mit dem du selbst nichts anfangen konntest.

Die Progressivität war ein Mantra, das die elektronische Tanzmusik gerade um die Jahrtausendwende sehr stark beherrscht hat. Die ganze Trance-Szene hat oft stark darauf aufgebaut, dass sich die Leute lange DJ-Sets anhören, die aus ebenfalls langen Titeln bestehen. Es wäre überheblich zu behaupten, dass Progressivität besser ist als die aktuelle Drop-Mentalität, aber sie hat doch einen ganz anderen Charakter. Gerade, da wir die Welt heute so schnell leben, ist sie eine gute Gelegenheit, einen Schritt zurückzutreten und sich neu aufzutanken. Ob es einem gefällt, über Minuten den gleichen Klängen zu lauschen, muss aber jeder selbst entscheiden.

Zu guter Letzt gebe ich euch noch einige persönliche Titelempfehlungen auf den Weg. Falls ihr Blut geleckt habt seid ihr herzlich eingeladen, noch ein wenig weiter zu hören. Und denkt dran: Skippen tötet die Atmosphäre. ;-)

In diesem Sinne:

Clear Skies!

Ch3shire / Jonas Ohland

PS: Vielen Dank an Gimbal & Sinan, die mit ihrer Erfahrung und Musikkenntnis einen Großteil dieser Themen abgedeckt haben. Wäre unfair, sie nicht zu würdigen, mindestens 50% dieses Artikels gehen auf ihre Kappe. :-)

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