Yasmin Alinaghi
ohne Worte
Tunis, Tunesien, 2002
Hamdi liebte seinen Beruf. Es lag ihm, Konditionen und Verträge zu verhandeln. Dieses Talent verdankte er seinem Vater und dessen libanesischem Erbe. Für Motorola leitete er seit 1995 erfolgreich den Vertrieb für Halbleiter im Mittleren Osten. Er war mehrere Jahre für den amerikanischen Konzern in Dubai stationiert gewesen. Jetzt führte er die Region vom europäischen Hauptsitz in Wiesbaden aus. Seiner Frau zuliebe waren sie vor 18 Monaten nach Deutschland zurückgekehrt.
Er schaute ungeduldig auf die Uhr. Sein mütterliches, deutsches Erbe drängte auf Pünktlichkeit. Doch Eric, sein französischer Vorgesetzter, zuständig für den Vertrieb weltweit, war chronisch unpünktlich. Auch heute kam er geschlagene 15 Minuten zu spät. Dank ihres versierten Fahrers schafften sie es trotz der Verspätung rechtzeitig zum Flughafen nach Frankfurt. Während der gesamten vierzigminütigen Fahrt zum Terminal 1 stritt sich Eric mit seiner Frau am Telefon. Einmal mehr wurde Hamdi Zeuge, wie sich sein Chef auf der Nase herumtanzen ließ. Er schüttelte verständnislos den Kopf. Sie befanden sich gemeinsam auf dem Weg zu ihrem größten tunesischen Vertriebspartner in Sousse. Der nächstgelegene Flughafen Monastir wurde von Frankfurt aus nicht direkt angeflogen. Bei ihrer Zwischenlandung in Tunis verließ der Großteil der Passagiere die Maschine, und wenige neue Fluggäste stiegen zu. Hamdi und Eric saßen in einer Dreierreihe. Der Sitzplatz neben ihnen am Gang war frei geworden und wurde von einem gut gekleideten tunesischen Geschäftsmann besetzt.
Am Abend empörte sich Eric während eines herrlichen Abendessens im wunderschönen Hafen von Sousse, dass für den Weiterflug von Tunis nach Monastir offensichtlich keine neuen Boardkarten ausgestellt worden waren. Er empfand die freie Sitzplatzwahl für die Zugestiegenen als irritierend.
„Warum stört dich das?“, fragte Hamdi verblüfft. Von einem Mann, der sich fast eine Stunde lang von seiner Frau beschimpfen ließ, erstaunte ihn diese empfindsame Reaktion.
„Der Herr, der sich neben dich gesetzt hat, hätte ja wenigstens fragen können, ob der Sitzplatz frei ist“, entrüstete sich Eric.
„Aber er hat doch gefragt“, versicherte Hamdi, „sehr höflich sogar.“
„Ach, wann denn?“, wunderte sich sein Vorgesetzter mit großen Augen.
„Na, als er die Zeitung vom Sitz genommen hat. Und ich habe ebenso höflich geantwortet”, bekräftigte Hamdi nach einer kurzen Pause.
„Merkwürdig, ich habe nichts gehört“, murmelte Eric verwundert.
„Er hat ja auch nichts gesagt“, entgegnete Hamdi lakonisch.
Eric schaute seinen Mitarbeiter entgeistert an. „Wie kann man denn fragen, OHNE etwas zu sagen?“ Er sprach pointiert und schnappte hörbar nach Luft. „Und vor allem auch noch „HÖFLICH antworten”, ohne zu sprechen?“, setzte er spitz hinzu.
Das „HÖFLICH” betonte er so komisch, fast ironisch. Offenkundig fühlte sich Eric auf den Arm genommen. Da Hamdi seinen Chef nicht beleidigen wollte, gab er die offensichtliche Antwort auf diese rhetorische Frage: „Mit den Augen, natürlich!“
„Klar! Mit den Augen“, echote Eric lahm. Dann versank er in grüblerisches Schweigen. Es dauerte einige Minuten, bis der Franzose wieder sprach. „Im Büro macht ihr das auch dauernd“, maulte er.
„Wer?“, fragte Hamdi misstrauisch.
„Na du und Karim“, antwortete Eric gereizt.
Karmin war Ägypter und gehörte zu Hamdis Team. Sie arbeiteten Hand in Hand und verstanden sich „blind“. Oder sollte Hamdi besser sagen „taub“. Langsam ahnte er, worauf sein Chef anspielte. Trotzdem hakte er nach: „Was machen wir?“
„Manches Mal stelle ich euch eine Frage. Und während ich noch auf eine Antwort warte, steht ihr einfach auf und geht.“
Hamdi wollte empört widersprechen. Eine derartige Unhöflichkeit käme weder ihm noch Karim in den Sinn. Aber Eric winkte beschwichtigend ab. Er wirkte jetzt nicht mehr verletzt, sondern eher euphorisch. Ganz so wie jemand, der eine bahnbrechende Entdeckung gemacht hatte. „Wenn ich dann nachfrage, reagiert ihr jedes Mal völlig überrascht und behauptet erstaunt, die Antwort bereits gegeben zu haben.“
„So, tun wir das?“, Hamdi konnte ein Schmunzeln nur mühsam unterdrücken.
Erics Augen leuchteten triumphierend auf. „Wahrscheinlich hattet ihr tatsächlich geantwortet, aber da IHR ohne Worte auskommt, stehe ICH natürlich auf dem Schlauch.“
Hamdi rührte bedächtig in seinem Tee. Er hatte immer gedacht, Eric sei unkonzentriert oder ein bisschen schusselig. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, dass die Erklärung so simpel wie erstaunlich war: Eric konnte tatsächlich nicht mit den Augen sprechen!
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