Dierk Seidel

Ödnis in Sepia

Der Junge kam mit dem Zug an und das Mädchen holte ihn vom Bahnhof ab.
Sie arbeitete seit einem halben Jahr bei der Familie auf dem Hof als Mädchen für alles. Sie half, die Tiere zu füttern und kümmerte sich mit der Frau des Bauern um den Haushalt. Untergebracht war sie in einer kleinen Kammer, die an die Küche angrenzte.
Sie kannte ihre Bereiche, aber wusste nicht viel über die Familie. Es wurde immer nur das Nötigste gesprochen. Sonntags, wenn die Familie in der Kirche war, ging das Mädchen spazieren. Einfach nur weg von dieser Ödnis getunkt in Sepia.

Sie würde den Jungen schon erkennen, hatte die Bauersfrau gesagt. Jeder würde ihn erkennen, auch du, hatte sie gesagt, bevor das Mädchen zum Bahnhof ging.

Das Mädchen sah den Dampf der Lokomotive schon lange, bevor der Zug in erkennbarer Reichweite war. Quietschend und prustend hielt der Zug am kleinen Bahnhof. Ein Schaffner stieg aus, es folgte ihm nur eine Person. Das muss er sein, dachte das Mädchen. Sie ging zu ihm hin und musterte ihn. Groß war er, wie der Bauer, seine Haare schwarz und dicht und ohne, dass eine Frisur erkennbar wäre. Er hatte nur einen kleinen Beutel als Gepäck.

„Ich bin das neue Mädchen am Hof deiner Eltern. Komm mit.“

„Sie kommen nicht selbst?“

„Sie haben immer so viel zu tun.“

„Ja, das wird es sein.“

Sie liefen schweigend nebeneinanderher, die lehmige Hauptstraße des Dorfes entlang. Von allen Seiten wurden sie beobachtet und alle fragten sich, ob das gut gehen wird. Sie bogen links ab und sahen in der Entfernung das verwinkelte Bauernhaus.
Als sie ankamen, erklärte der Bauer gerade den Jungs aus dem Dorf etwas an einer alten Strohballenpresse. Er blickte kurz hoch und ging dann fort in die Scheune.

„Geh ruhig zu den Jungs, die können dir ja schon mal alles zeigen. Ich gebe deiner Mutter Bescheid, dass du da bist“, sagte das Mädchen zu ihm.

Sie schnappte sich seinen Beutel und ging ins Haupthaus.

Er zögerte etwas, ging dann zu der Truppe Jungs und nickte ihnen zu. Sie wichen kurz zurück, dann trat ein kleiner, aber forscher Junge hervor.

„An diese Strohballenpresse darfst du noch nicht ran. Neulinge müssen erstmal zeigen, dass sie mit der Hand arbeiten können. Komm mit.“

Sie gingen zu einer Wiese, auf der Kuhfladen verteilt waren. Drumherum gemähtes Gras.

„Knie dich hin und roll das Gras um die Fladen, so dass kleine runde Ballen entstehen. Die Fladen sorgen für die Festigkeit, die sonst eine Presse bewirkt hätte.“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, fragte der Neuankömmling.

„Wir mussten da alle durch.“

Dann stellten sich alle Dorfjungen im Kreis um ihn und riefen rhythmisch:

„Fang an, fang an, fang an, fang an.“

Es wirkte bedrohlich. Sie wirkten bedrohlich. Er kniete sich hin und drehte die Scheiße in kleine Grashaufen.

Der Bauer kam aus der Scheune, stellte sich zu den Dorfjungen, steckte sich eine Zigarette an und sagte:

„Alle, aber auch wirklich alle konnten das besser als du.“

Das Mädchen stand in der Tür zur Schlafkammer des Bauernpaares. Die Frau stand am Fenster und blickte zum Feld. Als sie merkte, dass das Mädchen in der Tür stand, wendete sie sich ihr zu.

„Ist seine Kammer fertig?“

Das Mädchen nickte.

„Gut, dann rette ihn, ehe die Krähen ihn draußen zerfleischen.“

Das Mädchen nickte, nahm vom Schlüsselbrett den Schlüsselbund für das Nebenhaus und ging zum Feld. Die Dorfjungen und der Bauer blickten sie an. Der Junge rollte weiter am Boden in der Scheiße.

„Es reicht jetzt mit euren Schandtaten. Er kommt mit mir.“

„Das hast du nicht zu entscheiden“, sagte der vorlaute Dorfjunge.

„Ich und die Bauersfrau haben das entschieden und jetzt verzieht euch, ihr Mistkerle, sonst könnt ihr was erleben.“

Die Dorfjungen zögerten kurz und rannten dann davon. Der Bauer zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, drückte sie unter seinen Stiefeln aus, spuckte aus und sagte:

„Mach, was das Mädchen sagt. Mach immer, was sie sagt.“

Er drehte sich um, ging zur Ballenpresse und schraubte an ihr rum.

„Komm“, sagte sie und streckte ihre Hand aus, „es wird gleich regnen.“

Er griff ihre Hand mit seiner dreckigen und ging mit ihr Richtung Haus. Es fing an zu regnen.

Neben dem Haupthaus war ein Nebenhaus, an dessen Außenseite eine Treppe zum ersten Stock führte. Sie gingen hoch und das Mädchen schloss die Außentür auf. Ein Gang war zu sehen. Holzdielen. Zwei Türen rechts, eine Tür links.

„Hinter der linken Tür ist deine Kammer. Du kennst sie sicher noch von früher. Hier oben ist kein Bad, ich habe dir aber eine Schüssel mit Wasser zum Waschen hingestellt.“

„Hier oben gibt es ein Bad. Schon immer. Da rechts, die Tür“, sagte er und drückte die Klinke nach unten. Verschlossen.

„Dieser Raum darf nie, aber auch niemals betreten werden. Das war die erste Regel, die man mir beibrachte, als ich vor einiger Zeit hier anfing.“

„Gib mir den Schlüssel.“

„Welchen Schlüssel?“

„Es sind drei an deinem Bund. Einer für den Eingang, einer für meine Kammer, um mich nachts einzuschließen und einer für diesen Raum.“

Sie schaute den Bund an. Das kann ich nicht tun, dachte sie. Die oberste Regel. Doch die Neugierde überkam sie. Sie war so oft hier oben, nie verspürte sie das Bedürfnis, hier reinzuschauen. Bis jetzt. Sie schob den passenden Schlüssel ins Loch, drehte um und öffnete die Tür einen Spalt weit. Als erstes sah sie die Ränder eines Spiegels und ihre besorgten Augen blickten sie an. Ihr Blick ging Richtung Boden, wo eine Pistole lag. Es sah so aus, als sei sie mit dem Boden verschmolzen. Schnell wollte sie die Tür zudrücken, doch es gelang ihr nicht. Ein Windsog kam aus dem Raum und fegte kräftig durch den Flur. Sie konnte sich nur mit aller Kraft auf den Beinen halten.

„Was ist das?“, schrie sie in die Richtung des Jungen.

„Das ist der Ursprung, der Anfang und das Ende.“

Der Junge wurde immer schmaler. Der Windsog zog ihn durch den Türspalt. Er lächelte ihr zu. Er wirkte zufrieden. Zum ersten Mal an diesem seltsamen Tag. Die Tür schlug zu. Schwarzer Nebel kam durch die Ritzen hervor. Der Schlüssel drehte sich selbstständig um und brach dann ab. Der Nebel wurde weniger, der Windsog war wieder verschwunden.
Das Mädchen hob den übrigen Schlüsselbund auf, ging zitternd durch die Außentür und schloss von außen ab.

In der Zwischenzeit hatte der Regen aufgehört. Der Bauer werkelte an der Ballenpresse herum. Die Bauersfrau hängte weiße Bettlaken an der Leine auf. Als sie das Mädchen sah, winkte sie es zu sich.

„Wenn du die Kammer oben fertig hast, geh doch zum Bahnhof und hole unseren Jungen vom Bahnhof ab. Er kommt mit dem Zwölf-Uhr-Zug, du wirst ihn an seinem Lächeln erkennen. Ihr werdet euch gut verstehen. Er ist ein herzensguter Mensch, genau wie du.“

Sie lächelte, nahm ein Laken aus ihrem Korb und warf es über die Leine.