Dierk Seidel

Nur ein Tag

Er ging langsam zum Fenster, drehte den Griff, zog das Fenster auf, nahm seine Zigaretten von der Fensterbank und entfachte eine Zigarette mit einem Streichholz. Er blickte starr auf die Szenerie, die sich ihm unten bot, zog lang an der Zigarette und atmete aus. Der Rauch verwob sich mit seinen Gedanken. Wo sollte das noch alles hinführen, fragte er sich.

Sie zog die Waren, jetzt gerade Zigaretten, über das Band und musste ein wenig schmunzeln, denn der Kunde hatte sie so drapiert, als wären es Figuren auf einem Tischkickerfeld. Ihr Scanner war das Tor, das einen Spieler nach dem anderen verschluckte. Sie lächelte und freute sich auf ihren Feierabend, als sie merkte, wie sich der Laden leerte und immer mehr Menschen zur Tür zeigten und rausrannten und tuschelten. Sie wusste nicht, was geschah, aber im Grunde genommen hatte es sie auch nicht zu interessieren, dachte sie.

Ihm fehlte manchmal etwas Fingerspitzengefühl, aber was heißt das schon, außer dass er sich manchmal im Ton vergriff. Manchmal schrie er, wenn es nicht passte, manchmal lachte er, wenn andere weinten. Und auch heute musste er lachen, beim Gaffen auf dem Platz vor dem Supermarkt. So genau konnte er zu Beginn nicht erkennen, was los war. Also ging er näher ran und er musste schreien, obwohl viele in einer Art Schockstarre still dastanden. Er schrie sich in Rage. Er verhielt sich so extrem und so falsch. Ihm fehlte das Fingerspitzengefühl.

Mit der Zeit wurde sie doch neugierig. Nie, aber auch wirklich niemals ließ sie sich nachsagen, sie sei neugierig, aber nun? Der Laden war leer und sie drehte sich auf ihrem Drehstuhl hin und her. Es war ein Montagabend und keiner war mehr da. Vielleicht, überlegte sie, kann ich mal kurz nachsehen, nur kurz. Und dann stand sie auf und ging nach draußen. Was sie als erstes sah oder vielmehr hörte, war ein entsetzliches Geschrei. Ein Mann in einem Papageienkostüm schrie, als ginge es um sein Leben. Dabei war er gar nicht die Hauptattraktion. Sie sah Frau Eisner, die heute Mittag noch ein Eis und eine Dose Thunfisch gekauft hatte. Sie lächelten sich beide zu.

Er drückte seine Zigarette an der Fensterbank aus, schloss das Fenster und ging Richtung Schlafzimmer, um sich etwas anzuziehen. Nackt rauchen am Fenster liebte er eigentlich sehr. Aber normalerweise sah ihn maximal seine Nachbarin Inge. Doch heute, wenn so viele Menschen da unten standen, war es ihm unangenehm. Ich könnte sie ablenken, einfach einen Ball runterwerfen, wie in den Werner-Filmen, aber das würde heute wahrscheinlich auch keinen mehr irritieren, dachte er. Als er angezogen war, packte er seine Sachen. Er deckte alle Möbel mit Laken ab und verließ Inge, die Wohnung und die graue Stadt durch den Innenhof. Er war nie hier gewesen.

Inge wusste, dass er irgendwann verschwinden würde. Mehr wusste sie nicht. Inge wollte nicht mehr wissen. Inge nahm einen Fußball und warf ihn aus dem Fenster in die Menschenmenge. Die Kassiererin vom Supermarkt wurde am Kopf getroffen. Es schien nicht so wild zu sein, aber Inge tat es leid.

Plötzlich hörte man die Sirenen eines Polizeiautos oder auch mehrerer. Rauchgeschosse flogen. Menschen warfen Steine, aber das, um das es eigentlich ging, blieb unberührt. Wie ein Kunstwerk, das niemand berühren durfte. Die Menschen verteidigten es vor den Einsatzkräften. Und sie verteidigten gut. Nur eine hatte genug.

Erst bekam sie einen Fußball an den Kopf, dann flogen Schuhe, Taschen und Bücher. Das reichte ihr. Sie ging zurück in den Supermarkt, schloss den Laden ab und ging durch den Innenhof nach Hause. Sollten sich doch andere um das alles kümmern.

Die Menge fing an zu kreischen. Alle rannten durcheinander. Dinge wurden geworfen und der Mann ohne Fingerspitzengefühl verstummte. Er blieb still stehen. Doch dann setzte er sich langsam in Bewegung, ging Schritt für Schritt zum Mittelpunkt und streichelte es.