Dierk Seidel

Nacht durchleben

Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab. Dreimal wollte ich schon saugen und habe immer wieder abgebrochen, als ich mit einem Blick zum Fenster feststellen musste, dass tiefste Nacht herrscht.

Ich gehe wieder zum Schreibtisch und starre auf meinen Laptop. Viele Menschen sind bei Facebook online, was nicht heißen muss, dass sie wirklich da sind. Heute, an einem Samstagabend. Früher, wenn jemand bei ICQ online war, konnte man sich sicher sein, dass diese Person auch gerade zu Hause war. Vielleicht auch, so wie man selbst damals, vor einer Hausarbeit brütend. Heute heißt online sein gar nichts.

Ich blicke die leeren Seiten in dem Dokument auf meinem Laptop an. Zwinge mich zum Schreiben. Zwang soll ja manchmal hilfreich sein. Sollte ich vielleicht nochmal rausgehen, gucken, was passiert? Inspiration sammeln? Nein, eigentlich passiert ja zurzeit kaum etwas. Vor Corona zog man nochmal los und zwang sich vielleicht auf der Suche nach Inspiration gegenseitig Gespräche auf, denen man nicht entfliehen konnte. Nach langer Zeit stand man dann vor der eigenen Tür und stolperte die Treppen hinauf – ganz, ganz leise. Zu Hause starrte man auf den hell erleuchteten Monitor und tippte tiefsinnige Worte, nur um am nächsten Tag so etwas zu lesen wie:

„Die Nacht ist unendlich, das Schweigen denkt nicht.“

Was soll das heißen, ist doch bescheuert. Heute wäre es manchmal schön, entfliehen zu können. Blicke wieder zum Staubsauger und will saugen, doch ich verschiebe diese beruhigende Tätigkeit auf morgen. Und dann frage ich mich, was morgen eigentlich heißt. Beginnt der Morgen um 5 Uhr 23, wenn es langsam dämmert, wenn die Sonne gegen die Nacht kämpft und merkt, dass sie langsam gewinnt? Oder beginnt der Morgen für jeden immer individuell nach dem Aufstehen? Erleben die, die im Nachtdienst arbeiten, ihren Morgen, wenn sie aus der Arbeitsstätte raustreten oder erst gegen Mittag, wenn sie in ihrer Zweizimmer-Luxuswohnung aufwachen? Man könnte jemanden fragen, der im Nachtdienst arbeitet. Ich könnte den Notarzt anrufen und ihn kommen lassen und fragen, aber dann könnte ich auch gleich mitten in der Nacht saugen. Blicke sehnsüchtig den Sauger an und den staubigen Boden um mich herum.

Wird Zeit mal wieder ein paar Zeilen zu tippen. Ich richte mich auf und blicke zum Laptop. Leere erfüllt meinen Kopf. Wie spät ist es eigentlich? 23 Uhr 38. Bald ist morgen. Wenn man den Tag meint und nicht die Tageszeit.

Wenn ich jetzt saugen könnte, würde ich die Zeit genießen. Dieses gleichklingende wwwwwwwww würde mich beruhigen und mein Herz erwärmen und mich vergessen lassen, dass ich eigentlich etwas schreiben wollte. Will ich eigentlich gar nicht schreiben? Will mein Unterbewusstsein insgeheim, dass ich das Schreiben bleiben lasse? Saugen, die Leidenschaft des kleinen Mannes. Geht aber ja nicht, ist ja tiefe Nacht. Ich wippe ein wenig auf meinem Sitzball auf und ab und tippe dann die ersten Zeilen in dieser Nacht:

Saugen, die Leidenschaft, die Leiden schafft, zumindest in der Nacht.