Alexander Thinius

Musik soll fließen – wie Mara und Mirko neulich ein Stück über ein Thema gesprochen haben

„Knarrz“, sagte die Tür, und Mirko Mürrish trat aus seiner Wohnung ins Treppenhaus des Mehrfamilien-Obdach. „Knurrrz“, sagte es just in dem Moment von der Tür, welche zur gegenüberliegenden Mehrzimmer-Untereinheit des Hauses gehörte – Mara Melancholitsch betrat dasselbe Treppenhaus. Was soll ich sagen? Es passierte das, was normalerweise passiert, wenn sich zwei begegnen, die sich unterhalten möchten: Mirko und Mara signalisierten einander mithilfe der üblichen Mimik, dass sie bereit für ein Gespräch waren. Wie um einander noch einmal zu bestätigen – also, als wenn es nötig gewesen wäre – brachte jeder bzw. jede von beiden schon einmal ein Wort heraus: „Baumstamm“ – „Oberdonaudampfschiffartskapitän“. Wechselseitig bestärkendes Lächeln.

Mara gestikulierte daraufhin das Zeichen für „Welches Gespräch sollen wir denn mal führen“, woraufhin Mirko gestikulierte, er habe sein Buch gerade nicht dabei, aber führe zur Zeit vor allem Debatten, vor allem kontroverse; er habe gerade in letzter Zeit den Standard „Brauchen wir eine Frauenquote?“ geübt – für einen öffentlichen Auftritt im großen Gesprächs-Saal neben dem Theater. Mara war ganz begeistert, diesen Standard konnte sie auch noch sprechen. Erst neulich hatte sie über „Brauchen wir eine Frauenquote?“ auf einer Jam-Session im Gesprächs-Club improvisiert. Und so begann endlich das Gespräch zwischen Mara und Mirko.

Alexander Thinius: Musik soll fließen (Illustration: Malte Klingenhäger)Mara hob an: „Sehr geehrter Herr Mürrish, wie Sie ja sicherlich wissen, ist jedwede Frauenquote unter allen Umständen nichts anderes – und ich betone – nichts anderes, als Sexismus und Diskriminierung. Eine Gruppe von Menschen wird anhand eines mit Blick auf die jeweils gefragten Fähigkeiten völlig, ich betone, völlig irrelevanten Merkmales selektiert und entweder bevorzugt oder benachteiligt. Das ist nichts anderes, als Sexismus unter pseudo-feministischer Flagge, und im Grunde müssen Sie ja wohl zugeben, dass niemand eine derartige Ungerechtigkeit auch nur tolerieren, geschweige denn selbst verursachen wollen kann!“ Das war das Zeichen für Mirko, dass Maras Solo-Intro vorbei und die Zeit reif sei, mit seinem Gegen-Thema einzusteigen: „Geschätzte Kollegin Melancholitsch, ich gebe Ihnen natürlich in gewisser Hinsicht völlig Recht: Eine geschlechtsbezogene Quote, etwa für Führungskräfte in Aufsichtsräten, erscheint vordergründig wie die bloße Retourkutsche einer Ungerechtigkeit durch sich selbst unter verkehrten Vorzeichen. Aber, werte Kollegin, Sie verkennen doch meines Erachtens die Relevanz, die das Kriterium Geschlecht tatsächlich schon längst implizit und im Stillen spielt. In einer Gesellschaft, die Persönlichkeitsmerkmale bereits früh anhand von Geschlechteridealen ungleich unterstützt, wird das mittelfristig zu erwartende Ergebnis sein, dass bestimmte Eigenschaften bei Männern und andere bei Frauen tatsächlich häufiger und öfter stärker ausgeprägt vorzufinden sind. Es ist mittelfristig demnach durchaus rational, entlang der von der Gesellschaft selbst bereits benutzten Kategorien entsprechend gegenzusteuern, in der Hoffnung, freilich, die durch die kompensierende Diskriminierung entstehenden Veränderungen werden derartige Umverteilungen in kurzer Bälde überflüssig machen.“
Derart das Ende seines Solos anzeigend übergab Mirko wieder an Mara, welche bereits eine weitere Idee hatte.

Stell‘ dir mal vor, das wäre die übliche Art und Weise, in der Menschen ihre Sprache benutzen würden. Sie würden sich zunächst in einer anderen Art von Kommunikation über ihre Gemeinsamkeiten verständigen und dann aus einem Buch ein Gespräch auswählen, um miteinander reden zu können. Es gäbe verschiedene Formen von Gesprächen – immerhin – und mittlerweile würden Autoren ständig neue Themen in den verschiedenen Formen komponieren. Gute Gesprächsler könnten etwa über 200 Gesprächsthemen sicher auswendig reden.
Situationen, wie die in meinem Gedankenspiel, wären eher die Ausnahme: meistens müsste man sich verabreden und ein Programm festlegen; aber häufiger noch würde nur vor Publikum in einer bestimmten Aufführungs-Atmosphäre gesprochen, und das Ziel wäre immer, ein rundes, möglichst abgeschlossenes Gespräch zu führen. Mit einem klaren Anfang und einem deutlichen Schluss. Und natürlich wäre auch jeder einzelne Beitrag als solcher entsprechend mit Anfang und Ende erkennbar.
Weil man sich an der Perfektion eines guten Gesprächs so erfreute und Profi-Gesprächsler teuer und schwer zu bekommen wären – und man außerdem den einen perfekten Gesprächsmoment lieber immer wieder zu Hause nachhören wollen würde – hätten sich riesige Tonstudios und Plattenfirmen entwickelt. Durch die digitale Inflation der Tonträger wäre aber dann schließlich irgendwann das einzelne perfekte Werk doch nicht mehr so wichtig, und anstelle von Tagungsmitschnitten und Gesprächs-Aufführ-Abend-Mitschnitten würden lieber einzelne, kurze Gespräche ständig und überall verfügbar gemacht.
Es hätten sich auch regelrechte Gesprächsschulen entwickelt, in die Eltern, die sonst eigentlich nie sprechen, ihre Kinder schicken würden. Weil Sprache intelligent und glücklich macht, und außerdem etwas von Bildung und Tradition hat. In Jahresvorgesprächsrunden würden die mehr oder weniger zu bedauernden Kleinen auswendig gelernte Gespräche und Gerede großer Meister vorsprechen. Und im Publikum würden sich 70% bloß danach sehen, es möge schnell vorbei gehen, das eigene Kind möge endlich an der Reihe sein, und dann könne man endlich wieder irgendeine Aufnahme von Pop-Gesprächen im Auto auf dem Heimweg anschmeißen, wo man eh nicht so genau hinhören muss, aber sich freut, wenn da jemand redet.

Stell dir solch ein Welt vor. – Es braucht keine Marie Curie, um zu erkennen, dass in meinem Text „Sprache“ und alle mit ihr verwandten Ausdrücke durch „Musik“ und die entsprechenden Begriffe getauscht werden müssen, und schon reden wir über das hier und jetzt.
Es scheint ja so, als ob man nur Musik machen könne, wenn man ein Stück vorspielt. Selbst wenn wir auf eine Session zum Improvisieren gehen, wollen wir immer Stücke spielen. Und wenn ich irgendwo mit meinem Instrument aufkreuze, ist immer die Frage, welche Stücke ich denn kann. Niemand hat Zeit und Lust auf „so ein bisschen herum Gespiele“; nein, das Ziel ist immer ein gutes Produkt, und wer nicht künstlerisch wertvoll spielen, pfeifen oder singen kann, der entschuldigt sich eher noch für seinen Dilettantismus, oder lässt es gleich ganz sein – „unmusikalisch“ heißt das dann.
Musik kommt also in mehr oder weniger professionell gehandwerkten Stücken daher. Als wäre sie undenkbar außerhalb von Stücken, Liedern, pieces, Songs, Kompositionen, Alben. Wenn man sich mal ganz progressiv fühlt, werden lange Songstrukturen erdacht, die ein ganzes Konzeptalbum, eine Show umfassen. Sinfonien werden geschrieben, Opern und Filmmusiken, die den musikalischen Spannungsbogen etwas weiter ausdehnen. Improvisationen nehmen sich „noch eine Runde in der Form“, wenn es gerade so schön passt. Aber eines bleibt: Der Horizont von gespielter Musik ist ihr Ende.

Das finde ich per se gar nicht schlimm. Anfang und Ende, Narrative um von A nach O zu gelangen – alles toll, alles spannend. Und ganz ohne Form keine Musik und keine Sprache, sicherlich. Aber ich finde es doch traurig, dass sich die Musik einem Diktat der Stücke unterwirft. Und zwar, weil wir Musiker es in der Regel nur so gelernt haben und wir Zuhörer nach nichts Anderem fragen.
Wenn ich für mich spiele – bisher habe ich die Situation immerhin auf ein paar Menschen ausgedehnt – dann schaffe ich es manchmal, eben einfach irgendwo anzufangen, weiter zu machen und immer weiter irgendetwas fließen zu lassen. So wie wir ja auch manchmal ein Gespräch ganz einfach so ins Blaue hinein führen und von Hölzchen auf Stückchen kommen. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei. Kein Schluss, keine Aufnahme, nur noch vage Erinnerung. Nicht alles ist dann auch gleich sinnvoll, folgerichtig, perfekt, und ich werde nicht unbedingt das Gefühl haben, mein Leben ändern zu müssen; aber dennoch: Ist es das nicht manchmal Wert, die unspektakuläre Flüchtigkeit des Moments, das schlichte dahin Spielen von Lebenszeit zu genießen – ohne alles direkt in Stücken darbieten zu müssen?

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