Torsten Schoeneberg

Giorgio

Giorgio. Vor Tagen kurz kennengelernt, heute beim Frühstück setzt er sich zu mir. Nicht größer als ich, aber wuchtiger Körper, großer runder Kopf. Braune Haut, kleine scharfe Falten im Gesicht und kurzgeschorene gräulich-schwarze Haare. Ordentliche Jacke, darunter diesmal ein Hemd (neulich ein Fußballtrikot). Dunkle, schöne Augen. Hätte ich das richtig mitbekommen, daß er Rumäne ist? Er ist geschieden, sagt er. Und dann geht seine Erzählung auseinander:

06-2015-Torsten-Schöneberg-Kurzgeschichten-Menschen-GiorgioEr ist 52. Geschieden. Durch mit Frauen. Früher war das anders, da hatte er drei oder vier gleichzeitig. Jetzt ist er impotent. (Das umschreibt er, aber eindeutig; er sitzt noch keine fünf Minuten bei mir. Ich frage eigentlich nichts, nur ganz am Anfang, und jetzt: Wie das Geschäft läuft?) Kein Geschäft. Er ist Arbeiter, jetzt hat er Urlaub, zwei Wochen. Auf Island, um den Kopf frei zu kriegen. Nichts mehr mit Frauen. Er könne mir Orte zeigen, wo man vieles billig oder gratis bekommt. Der Kaffee, den er gerade trinkt (er hebt die kleine weiße Tasse), habe er gratis bekommen. Und Nachschlag bekomme er auch. Ich solle um 12 am Hlemmur Square sein, und Freunde mitbringen, er bekomme dort Sachen (Essen?) manchmal kostenlos, manchmal wenigstens vergünstigt, und es gebe immer Nachschlag. Zwei junge Rumäninnen arbeiteten dort, die seien vielleicht was für mich. Mit denen könne er auf Rumänisch reden, deswegen sei es dort so gut. Er spreche sehr gut rumänisch, außerdem italienisch – er habe 16 Jahre in Italien und 10 hier auf Island gearbeitet – und spanisch. Englisch lerne er gerade hier, er könne noch nicht gut sprechen, aber er verstehe alles, was ich sage.

Als zwei junge Frauen hereinkommen, die sich als Deutsche herausstellen, will er sie mit mir bekannt machen. Dann kramt er Ringe und Schmuck hervor und bietet sie ihnen an. Sie lehnen ab und verschwinden, er zeigt mir die Sachen in seiner dicken Hand: billiger Schund.

Seine Tochter sei 27. Gut, daß sie erwachsen sei, sie könne für sich selbst sorgen. Mit Familie sei er durch!, hier müsse er den Kopf frei kriegen (er fährt sich mit der Hand durch die kurzen Haare). Er kenne viele Leute hier. Er wisse, wo man Sachen kostenlos bekommt. Um 12 solle ich zum Hlemmur Square kommen, und andere mitbringen.

Im Zimmer erzähle ich Kristian davon, er schreckt sofort hoch: „Don’t trust Giorgio!“ Neulich hatte er sich mit ihm unterhalten, weil er italienisch sprach (er habe gesagt, er sei aus Turin). Aber dann habe er nur „bullshit“ erzählt.

An den folgenden Tagen sehe ich ihn noch ein paar Mal im Hostel, wie er mit dem und jenem spricht, einmal wieder in einem Fußballtrikot. Ein oder zwei Mal nickt er mir zu, aber wir beide meiden Kontakt.

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