Torsten Schoeneberg

Memphis

Vorher hatte ich beim Fahren Pressen ums Herz und Schwindel gefühlt. Zu wenig Essen, dachte ich, und ich hatte Pech: in dem Ort mitten in Arkansas, wo ich übernachtete, waren drei (!) Steakhäuser geschlossen. Ich ergab mich schließlich einem Taco Bell, wo ich den Mann an der Theke nicht verstand (Zahnlücke) und, um mehr Peinlichkeit zu vermeiden, nach einem kleinen Taco nichts mehr bestellte. Drei Jugendliche kamen hinein, zwei schlaksige schwarze Jungs und ein langhaariges weißes Mädchen, und etwas an der Art, wie sie miteinander über ihre Zukunft und den Weg dahin schnackten, war mir unangenehm. Ich dachte: Sie haben schon begonnen sich selbst auszubeuten – für anderes, auch für manches Gute, aber all zu oft einfach für nichts. Keinen anderen Traum haben sie als dies zu perfektionieren: „Ich arbeite da, um mir das kaufen zu können“. Auf Bildschirmen liefen Musikvideos.

Torsten Schoeneberg Kurzgeschichte: MemphisNachher schrieb ich: „Am zweiten Tag ist man von einer Stadt immer enttäuscht.“ Dann korrigierte ich dieses „immer“, es war mir bei zwei anderen Städten passiert, aber bei einigen nicht. Nun, hier war die Enttäuschung groß. Sich im orangewarmen Hostel ein quietschgrünes Fahrrad gemietet zu haben, hatte dem da draußen nicht standgehalten: Die Stadt war furchtbar farblos, Himmel wie Fluß wie die Häuser in Downtown ein einziges Grau. Es war kalt und gesichtschneidend windig, die Karte erwies sich als nicht maßstabsgetreu, schon die kalte Union Avenue zog und zog und zog sich ewig; später fand ich lange das Ufer nicht (weil es dorthin tatsächlich erst wieder bergan ging), und als ich endlich dort war, lohnte es nicht, sich am Fluß durch den Wind und über Treppen und graue Straßen zu einer Brücke oder gar zur Pyramide durchzuschlagen. Die kalte Beale Street war verlassen, ein Zahnloser erzählte mir Anekdoten und bat um fünf Dollar dafür, irgendwo schrien sich Leute an. Ruhiges Atmen nur am Gedenkstein für den erschossenen Martin Luther King, darauf ein Zitat aus der Genesis: „Seht, da kommt der Träumer her. Laßt ihn uns erschlagen, und dann sehen wir, was aus seinen Träumen wird.“ Ein Wachmann beim Bürgerrechtsmuseum war so unfreundlich, daß ich wegfuhr. Die Straßenbahn war außer Betrieb und bald hörten die Schienen im Nichts auf; Kilometer um Kilometer auf gelblichgrauen Betonplattenstraßen fuhr ich zurück, mußte hoch auf eine Brücke um die Interstate zu kreuzen, ein schwarzer Riesentruck wollte mich von der Fahrbahn hupen, ich ahnte von ferne den Flughafen; zwischen Autos, graugrünen Vorgärten, graugelben Feldern und leeren grauschwarzen Supermärkten und Parkplätzen sah ich auf der Heimfahrt bloß einen Menschen, eine Arme mit Plastiktüten, der ich ausgewichen bin. Es wurde dunkel, und in der Kälte und dem Wind und dem Schweiß unter meiner Jacke, kalt fühlbar an den Unterarmen, zog und zog und zog es sich, bis ich endlich am Hostel war. „Wie war es?“ – „Kalt.“

Vorher die Autofahrt, mit einem Halt im Naturpark White River. Ich schrieb: „Seit heute früh, zum ersten Mal seit Oregon, Regen und bedeckter Himmel, die Felder und Wälder weiterhin herbstfarbig aber jetzt gelber, auch die Straßen, und etwas ruckliger, und weitere Felder, flaches Land, hin und wieder steht Wasser (das immer erst schwarz aussieht) darauf, aber es ist kein Sumpf. Riesige Schwärme aus kleinen schwarzen Vögeln, die den Highway kreuzen und nicht enden, während ein Truck gegenüber und ich näher kommen. Ich bin zuerst da, wenige Sekunden vor mir stockt der Schwarm, zerfliegt nach oben und zu den Seiten wie eine Fontäne. Dann im Rückspiegel das gleiche noch einmal, als der Truck durchfährt, und als er vorbei ist, strömen sie weiter. Ein paar Meilen weiter draußen auf dem Feld wieder gigantische Schwärme (die meisten Tiere sitzen sogar noch, während sich der lockere Schwarmkörper aufschwingt), einmal rechts, einmal links; und dann noch einmal sehr weit weg, tief fliegend ein Schwarm, kaum zu erkennen vor dem ruppigen dunkelgrauen Waldstreifen und dem hohen Hellgrau des Nieselhimmels darüber. Und immer wieder ein Blatt wird auf die Straße getrieben, angstmachend daß es ein Tier ist, so viele Kadaver liegen auf den Highways. Vieles ist doch grün, aber man sieht es nicht im Grau. Einmal längst gepflückte Baumwolle, wie weißes Puder, auf einem gelb-braun gestreiften Feld.“

Nachher, am zweiten Morgen in der Stadt, habe ich Graceland rechts liegen gelassen; es liegt an einer der breiten, nur für Autos gemachten Straßen, und die Umgebung ist schäbig, sie ähnelt einer Highwayraststätte mit Fast-Food-Ketten. Wirklich ist die nächste Attraktion die Auffahrt zur Interstate. An der Tankstelle in der Auffahrt ist der großgewachsene schnurrbarttragende Tankwart wortkarg, aber geduldig, er erklärt die Pumpe und wechselt mir die nötigen Münzen; das Auto hatte gewarnt, auf den Reifen sei zu wenig Druck. Als ich alle vier bepumpt habe, sind mir die Finger wehgefroren.

Vorher im Naturpark war dann Sumpf, und einige prächtige Bäume darin, und ein Lehrpfad. Der Fluß floß ruhig und wellenlos, das Himmelsgrau und Schatten des Herbstwaldes spiegelnd; die Überschwemmungen kommen zu anderen Jahreszeiten. Ich aß einen Apfel, einige Kekse und eine Banane und war zwei Stunden lang der einzige Mensch dort.

Nachher schrieb ich, das Hostel, „Pilgrim House“, das von einer Kirchengemeinde getragen wird, sei einer der bemerkenswerten Schlaf-Orte der Reise. Die Farben warm, Begrüßungsgraffiti in vielen Schriften und Sprachen. Ohne Umstände lassen sie mich ihr Telephon benutzen, um meine Wagenmiete zu verlängern – um den Tag, den ich länger hier bleibe. Im Flur hängen eingerahmt Zeitungsberichte über die jungen Christen, die vor ein paar Jahren dieses Gebäude hergerichtet und eine Art WG darin begründet haben, woraus das Hostel und andere Projekte entstanden sind. Am ersten Abend war ein Wochenmeeting aller Angestellten, eine faltige ernstblickende Frau mit rauhen langen Haaren sitzt vor Kopf, die jungen Rezeptionisten, mehr Frauen als Männer, teils bieder teils bunt, sitzen zuhörend und essend dabei. Man bietet mir Essen an. In der Rezeptionsecke sitzen außer der Diensthabenden auch immer zwei oder drei andere, immer ißt irgendjemand, und sie schnacken über blöde Kollegen, gemeinsame Freunde, geplante und vergangene Reisen und Streß beim Lernen. Mein Bart sei „Dope“, sagt eine; dann sagt sie, ihr Leben sei schlimm, seit ihre beste Freundin weggezogen ist. Eine andere sagt, sie komme aus Oregon, da regne es nur; aber diese Stadt sei auch furchtbar. Ein gutaussehender junger Mann auf der Couch; der buntgekleidete Schwarze mit Hair Extensions – sie sind alle im ersten Moment fröhlich, und auf den zweiten Blick oder eine einzige Nachfrage zeigen sie Unglück wie sonst kaum jemand auf der ganzen Reise.
Jeder Gast muß jeden Tag eine „chore“, eine Haushaltsaufgabe erledigen; es ist ihnen merkbar peinlich, mir eins der täglich neu verteilten bunten Kärtchen zuzuteilen; ich muß dann einmal Geschirr einräumen und einmal den Computer abstauben (es hätte auch andere gegeben, „Flur wischen“ zum Beispiel).
Auf dem Rezeptionstisch steht ein winziges Goldfischglas und darin treibt ein einziger Fisch, der kaum Platz hat eine Runde zu drehen. Wenn sie einen Stift ans Glas halten, schnappt er danach. Sie nennen ihn „Stevie“ und sagen mir, sie alle liebten ihn und er sei glücklich.

Vorher rechnete ich: ein Schokocroissant gestern früh in Texarkana, ein Taco gestern Abend in White Hall, Früchte und Kekse heute am White River. Ich muß es in die Stadt schaffen, und dort werden sie catfish on the table haben. Mir fielen die Augen zu; ich fuhr durch einen Zipfel des Staats Mississippi; als ich die Brücke über den Fluß passiert hatte, kam ein Schlag auf die Scheibe und bis ich ankam, fürchtete ich, sie hätte einen Sprung, doch dann war es ein kleiner Glassplitter, der außen fest anhaftete aber die Scheibe nicht beschädigt hatte. Im letzten Teil der Fahrt – schnurgerade Straße zum Horizont – wurde das Grau dunkler; noch 30 Meilen bis zur Stadt und links und rechts nur Felder; noch 12 Meilen bis zur Stadt und links und rechts fast nur Felder, einmal vielleicht eine Fabrik oder Lagerhalle. Geradeaus fahren, den Blick hoch halten, vor der Dunkelheit schaffe ich es nicht mehr.

Nachher, am zweiten Abend, saß ich in einer weitläufigen Bar, die Decke so hoch wie in einer Sporthalle, die Tische weit auseinander, fast alle besetzt, und aß Chicken Wings und Pommes und Sauce.
Ich schrieb: „Wenn man sich alle Kindheitsträume erfüllt hat, dann sitzt man in einer Bar wo auf Großleinwand Basketball läuft, und ißt still und entrückt sein halbgutes günstiges Essen und wundert sich darüber, was die Leute reden, und wie jung sie erscheinen. Man hat etwas vergessen und läßt etwas sein, tut stattdessen etwas anderes.“
Ich dachte: „Andere hätten ein Problem mit dem Alleinsein. Für mich macht es keinen Unterschied, ich bin und war immer überall allein, und dann auch wieder nicht, aber auf eine Weise, die es egal macht, ob ich verreist bin oder nicht.“

Und ich war abwechselnd (nein, durchmischt) verärgert und amüsiert über eine Mail, in der ich gefragt wurde, warum ich das machte? (Und der mir schrieb, er hat mir nichts dir nichts eine Familie gegründet, und ich dachte, wenn ich ihn frage „Warum machst du das?“) Und als Antwort war wieder, wie von anderen, „Selbstfindung“ vorgeschlagen worden. Nein. So wie ich das Wort verstehe, habe ich mich vor vielen Jahren gefunden. Ich erinnerte mich an die kommende Geliebte, die meine Beschwerde verstanden hatte über dieses Wort, welches Menschen aus Mangel an Phantasie benutzen – um eine Lücke in ihrer Vorstellung zu überbrücken. Ich dachte: Was stellen die sich denn darunter vor? Wenn sie das meinen, was in Filmen so präsentiert wird: eine Art Erweckungsmoment nach einem Leiden, vorher hatte der Held gescheiterte Beziehungen und drohte in einem Sumpf zu versinken, nachher stellt er seine neugefundene oder geläuterte Kreativität in den Dienst der Gesellschaft, oder der Zukunft, oder irgendeines dieser guten Dinge – nein. Nein. Nein.

Vorher, zwei Tage vorher, fühlte ich beim Fahren ein Pressen am Herz und schrieb: aber vielleicht ist mein Herz voll.

Abends in Memphis auf einem sehr bequemen Sessel in einem Raum mit einem großen Teppich, einem Raum voller Bücher, und mir gegenüber, die rechte Hand am Kopf, lesend, eine jener strengen Schönheiten, die mich immer fasziniert haben, eine Brille trägt sie und hat glatte blonde Haare, durch die sie sich streicht. Später schlafe ich auf dem Sessel weg in ichweißnichtmehrwelche Träume.
Und heute noch die Häuser auf Stelzen und der Reisanbau, natürlich wird hier Reis angebaut und eine Riesenportion Catfish gegessen mit drei Beilagen und geschnackt mit einem alten Ehepaar und danach, aus dem schrägen Soul Fish Cafe heraus, im Dunkel die Cooper Street bis zur Union Avenue gegangen, oh es war bitter bitter kalt und ich war bis zum Hals voll, aber einmal lächelt ein Tischler durchs Fenster aus seiner beleuchteten Werkstatt, und die entgegenkommenden betrunkenen Alten tun leid, und es gibt schöne flache Häuser und Lichter im Dunkel und Gemeinde ist das Wort, selbst wenn die „I love Memphis“-Graffiti Auftragsarbeiten sind, sage und schreibe: die Stadt wo das Herz wieder zu schlagen angefangen hat, und der große Fluß den ich vorher überquert habe und dann bin ich auf dem Highway 61 beinah eingeschlafen, aber jetzt bin ich in Memphis angekommen und diese Stadt, durch die dieses große große Wasser fließt, ist heute Abend das schlagende Herz der Menschheit.

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