Dierk Seidel

Lucy auf dem Parkplatz

Es war eine merkwürdige Situation. Aber wenn das nun mal der einzige Arzt in dieser Stadt war, der an einem Sonntag praktizierte, dann nahm ich das einfach mal so hin.

Die Praxis war in einem zweistöckigen, nicht allzu großen Flachdachgebäude, das einsam auf einem großen Parkplatz stand. Der Parkplatz war völlig überdimensioniert und es wirkte beinahe so, als wäre es der Parkplatz für ein riesiges Einkaufszentrum gewesen, welches dann doch nie gebaut wurde. Ein paar Autos standen an den Rändern des Parkplatzes. Man konnte sie kaum sehen. Als wäre die Erdkrümmung auf diesem Parkplatz schon sichtbar. Wir wollten nicht zu nah ran, eine Unruhe breitete sich in uns aus. Unsere Hände zitterten. Ich gab Lucy einen Kuss auf die Wange und schlug die Beifahrertür unseres VW Scirocco von außen zu. Der Weg zur Arztpraxis war lang und beschwerlich. Nicht wegen etwaiger Hindernisse auf dem Weg, sondern wegen der vielen in meinem Kopf.

Ich klopfte an die Tür. Eine Klingel gab es nicht und auch kein Schild. Nach einigen Momenten öffnete ein kleiner Mann mit auffällig schwarz gefärbten Haaren die Tür und bat mich hinein.

„Martin, wir haben schon auf dich gewartet.“

Dann lächelte er, führte mich durch einen grau betonieren Raum in ein Behandlungszimmer und schob mich auf einen Behandlungsstuhl.

„Dr. Sträger kommt gleich. Einen Moment noch.“

Sträger, der Name kam mir bekannt vor. Als wäre ich schon mal bei ihm gewesen. Aber wann? Dann kam er rein. Weiße Hose an und ein weißes Poloshirt, das in der Hose klemmte und bedingt durch seinen unförmigen Bauch arg spannte. Sein Gesicht war am Kinn sehr schmal und wurde nach oben immer breiter. Er trug eine kleine Brille mit rechteckigen Gläsern. Seine Haare lockig, aber nicht zu lang.

Dr. Sträger setzte sich auf einen kleinen roll- und drehbaren Hocker und drehte eine Runde durch den Behandlungsraum. In was bin ich hier hineinreingeraten, fragte ich mich. Der Raum wurde dunkler und Dr. Sträger rollte zu mir und drückte an meiner Nase herum. Erst vorsichtig an der Nasenspitze, dann immer fester und weiter oben, ehe er sagte:

„Also Corona ist es nicht. Na, das wäre ja auch was, kommt ja kaum noch vor in dieser Gegend. Aber sie haben da dieses Dings in der Nase. Das sollte da nicht sein.“

Ich nickte, teils beruhigt, teils in völliger Unruhe.

„Was kann ich tun?“, fragte ich ihn.

Dr. Sträger fing auf einmal an auf seinem Hocker sitzend Bauch zu tanzen, vielleicht versuchte er auch einen imaginären Hula-Hoop-Reifen zum Kreisen zu bringen.

Ich fragte nochmal: „Was kann ich tun?“

Er hielt nun mit seinen Schlangenbewegungen inne und schnipste laut. Sein kleiner Helfer mit den schwarzen Haaren, der scheinbar die ganze Zeit hinter ihm gestanden hatte, drückte ihm zwei nasensprayartige Sprühflaschen in die Hand. Er nahm meine Hand, öffnete sie und legte die Flaschen hinein.

„Die grüne für die Nase. Die weiße für den Hals. Und jetzt schnell raus. Es ist immerhin Sonntag.“

Ich wurde hinausbegleitet. Die Tür schlug zu und da stand ich doch stark verunsichert vor dem Flachdachhaus. Ich blickte über den Parkplatz. Lucy und der Scirocco standen immer noch in der Mitte. Wie oft und wie viel sollte ich von den beiden Flaschen eigentlich nehmen? Dazu hatte der Arzt gar nichts gesagt. Ich drehte mich um und klopfte an. Nach einiger Zeit öffnete eine Frau in einer weiten türkisen Stoffhose die Tür. Aus dem ehemals grauen Betonraum war eine Art Meditationsraum geworden. Gelbe, freundliche Farben, Kerzen, Räucherstäbchen und Bilder von irgendwelchen Gurus hingen an den Wänden. Sie zog mich rein und flüsterte:

„Du darfst nicht hier sein, Martin. Aber jetzt musst du bleiben. Sehr lange.“

„Was soll das hier und wo ist Dr. Sträger?“

„Wir alle sind Dr. Sträger. Es ist unser Tag, Martin Sträger.“

Lucy hörte Musik und trommelte auf dem Lenkrad im Rhythmus. Martin war schon lange weg. Sie waren doch nur auf der Durchreise. Erst die Bank. Jetzt noch kurz hier was abholen und dann weiter über die Grenze. Wo blieb er nur, fragte sie sich.

Sie sah, wie er herauskam und kurz danach wieder in der Tür verschwand. Vielleicht hatte er noch etwas vergessen, überlegte Lucy. Doch dann traute sie ihren Augen nicht. Die Tür verflüssigte sich und wurde zu einer grauen Betonwand, wie der Rest des Hauses.

„Martin, ich hol dich da raus“, sagte Lucy und gab Vollgas.