Dierk Seidel

Lila Panini, Hans-Rudolph und das Ende des Sommers

Es war Sonntag und Lila Panini wachte extrem früh auf. Hellwach und mit aufgerissenen Augen starrte er die Decke an. Seine Eltern hatten ihm vor vielen Jahren ganz viele Sterne an die Decke geklebt, die im Dunkeln leuchten konnten. Jetzt, im Morgenlicht, konnte er nur wenige Umrisse erkennen.

Nachts zählte er immer die Sterne, aber heute Morgen im Halbdunkeln wollte er Pläne für den Tag machen. Kurz vor den Sommerferien hatte Lila Panini beim Singen am Aasee ein Zauberwesen kennengelernt, das manchmal etwas verrückte Ideen hatte, aber insgesamt grundsolide war. Fast jeden Tag der letzten Wochen traf er das Zauberwesen vom Aasee und es war schön. Seine Schulfreunde waren alle weggefahren und seine Eltern mussten zur Tarnung ganz normal arbeiten. Und dann noch ihr Job bei der Mafia, da blieb nicht viel Zeit für ihn. Aber heute sollten sie sich ein wenig Zeit nehmen. Das nahm sich Lila Panini fest vor.

Er grübelte nicht lange und hatte dann drei Ideen für den Tag:

1. Mit seiner Mutter eine Anhängerkupplung für sein BMX-Rad bauen, damit er viel mehr Spielzeug in einem Fahrradanhänger transportieren konnte.

2. Zum Versteck hinter der Hecke fahren, mit dem Zauberwesen spielen und auf den Mercedesfahrer warten. Vor ein paar Wochen hatten sie in einer wilden Zauberaktion einem Mercedes ganz viele Sterne hinzugefügt und nun warteten sie gespannt auf die Rückkehr des Besitzers.

3. Das Zauberwesen überreden, nur noch einen Namen zu verwenden. Lila Panini fand es ganz schön anstrengend, sich jeden Tag einen neuen Namen zu merken.

Als er nach einiger Zeit seine Eltern in der Küche hörte, rannte er runter und überredete seine Mutter beim Frühstück zum Bau der Anhängerkupplung.

„Warum fragst du nicht deinen Vater, Lila?“

Und dann lachten sie alle. Lila Paninis Vater war in vielen Dingen gut, aber Handwerken gehörte nicht dazu. Es zog sich bis in den frühen Nachmittag, aber dann waren sie stolz und zufrieden mit ihrem Werk. Lila Panini packte alle möglichen Dinge in seinen Anhänger und fuhr Richtung Aasee, in die Anette-Allee. Da das Zauberwesen jeden Tag einen neuen Namen hatte, konnte Lila Panini nicht gut nach ihm rufen, so sang er jedes Mal wechselnde Tonleitern rauf und runter und der Geist tauchte auf.

„C, D, E, F, G, A, H, C, und nochmal: C, D, E, F, G, A, H, C.“

Es funkelte und flackerte und das Geräusch eines Vibraphons ertönte. Das Zauberwesen tauchte allmählich vor Lila Panini auf. Er trug eine grün-rot karierte Leinenhose und ein weißes T-Shirt, auf dem ein Spruch stand: „Antilopen sind auch nur Giraffen auf zwei Beinen.“ Lila Panini grübelte kurz, dann gab er es auf. Manchmal verstand er den Humor einfach nicht.

„Hey, cool, das ging ja schnell heute. Und ganz ohne Komplikationen.“

„Schnell? Weißt du wie spät es ist? Ich warte hier schon seit, seit, seit, seit, also im Prinzip, seit du gestern weg bist. Also ewig.“

„Tut mir leid, es hat etwas länger gedauert mit der Anhängerkupplung.“

„Na, gut, Entschuldigung angenommen. Sieht auch cool aus, woraus ist die? Ist das nen Fleischwolf? Übrigens, Hans-Rudolph ist mein Name.“

„Hans-Rudolph, puh, darüber wollte ich mit dir reden. Und ja, es ist ein Fleischwolf und noch vieles mehr.“

„Worüber wolltest du mit mir reden?“

„Ich komm einfach nicht drauf klar, dass du jeden Tag einen anderen Namen hast, das macht mein Denken so schwierig.“

„Ist das denn wirklich so schwierig? Ich meine, da waren doch großartige Namen dabei: Lisbeth, Rainer, Andre, Tomma, Gerti, Ypsilon, Tilolin, Franziska, Kauzelwutz, Jane, El Kauzo, Jonn I, Meier, Aksel, Letti und Pipel um nur ein paar der 48 Namen zu nennen, die ich hatte, seit wir uns kennen.“

„Ja, schon, aber zum Beispiel immer, wenn ich jemandem von dir erzähle, muss ich sagen, das Zauberwesen mit wechselndem Namen und dann schütteln sie alle den Kopf und gehen mit so einem zzzz auf den Lippen weg.“

„Du erzählst von mir? Anderen Menschen? Das geht doch nicht.“

„Ups. Sollte ich nicht?“

„Ne, ich bin doch geheim, aber passt schon, meistens glaubt das eh niemand. Aber mal ganz ehrlich, Zauberwesen? Was Besseres fällt dir nicht ein?“

„Nun ja, was bist du denn? Außerdem hast du selbst den Begriff Zauberwesen verwendet, als du über diesen hessischen Zauberer gesprochen hast.“

„Zauberwesen, zzzz. Ich bin ein exzellentes Wesen meiner Klasse, ich bin weder Mensch noch Drache, ich kann nicht fliegen, kann aber fliegen lassen, ich kann springen, habe aber keinen Sprung in der Tasse, kann nicht singen, aber Töne machen, die ich nicht höre, kann schwimmen, tauchen und bin schon zigzehn Jahre alt. Lebe am Aasee, komm hier nicht weg, die Magie des Sees bindet uns. Und ja, es gibt noch mehr von uns, aber alle mit eigenem See, und nur einmal im Jahr lässt der See uns frei, damit wir uns treffen können, da kommen dann auch welche, die nicht an Seen gebunden sind, die sind aber auch nicht besser als wir. Wir sind alle gleich hochwertig. Kurzum, ich bin ein rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr“

Die Luft wurde von Störgeräuschen erfüllt, wie bei einer Fernsehstörung aus den Anfangstagen des Fernsehens.

„Kurzum, du bist ein was?“

„Habe ich doch gesagt, ich bin ein rrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.“

„Da kommt immer ein Störgeräusch.“

„Ach, ehrlich? Das höre ich gar nicht. Na, vielleicht will der See nicht, dass man weiß, was wir sind. Nenn mich halt Zauberwesen. Oder Zauberer. Auch wenn das natürlich viel zu kurzgefasst ist.“

„Und wenn wir dir einen der letzten 48 Namen geben?“

„Ich bin da nicht gänzlich von überzeugt, kleiner Lila Panini, aber gut, wir könnten den Rhythmus verlängern. Zum Beispiel ein Name pro Monat.“

„Das ist ein guter Kompromiss. Und wie wählen wir einen aus?“

„Wir losen.“

Hans-Rudolph zauberte einen Hut vor die beiden und Lila Panini holte aus dem Fahrradanhänger Stift und Papier und dann schrieben sie alle 48 Namen auf und losten aus.

Das Zauberwesen sollte den nächsten Monat wieder Kauzelwutz heißen. Lila Panini gefiel der Name außerordentlich gut und auch Kauzelwutz lachte insgeheim, wie vortrefflich er die Lose zu seinen Wünschen verzaubert hatte. Kauzelwutz gefiel ihm nämlich auch außerordentlich gut. Aber Abwechslung und Verwirrung waren auch wunderbar und so freute er sich schon darauf, wenn ein neuer Monat beginnen sollte.

Den Rest des Nachmittags spielten sie UNO und Kniffel und behielten dabei den verzauberten Mercedes gut im Blick. Gegen 18:20 Uhr blickte Lila Panini auf seine Casio-Armbanduhr und sagte, er müsse gleich los, als ein Taxi in der Nähe des Mercedes hielt.

Gespannt sahen die beiden hin und hielten sich vor Spannung an den Händen.

Ein Mann und eine Frau mittleren Alters stiegen aus dem Taxi. Beide hatten große Strohhüte auf dem Kopf. Sie trug ein geblümtes Kleid und er einen hellen Leinenanzug.

„Die waren bestimmt in Spanien“, flüsterte Lila Panini.

„Kümmerst du dich um das Gepäck, Anton? Ich muss dringend ins Haus und gucken, ob unsere Postkarten aus dem Urlaub alle angekommen sind. Ach, ich bin so gespannt.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte sie zur Haustür, schloss auf und verschwand.

Anton holte mit der Taxifahrerin vier Koffer aus dem Auto, bezahlte und blickte dem wegfahrenden Taxi hinterher. Dann streifte sein Blick am Haus vorbei zum Parkplatz, wo sein geliebter beiger Mercedes 280 E stand. Daneben standen noch die Wagen seiner Nachbar:innen, doch seiner funkelte besonders. Ich muss den Wagen wohl mal wieder waschen, dachte er und ging näher ran. Die gesamte Motorhaube war voller bunter Mercedessterne und neben dem eigentlichen Stern an der Front klebte ein weiterer.

Anton erstarrte. Sein Mund ging auf und zu und auf und zu. Er berührte die Motorhaube und den neuen Metallstern, dann strich er über die anderen bunten Sterne, die wie kleine Sticker auf der Haube klebten. Er fing an zu grinsen und rannte jubelnd ins Haus.

„Andrea, Andrea, Andrea, es ist so fantastisch. Guck dir meinen Wagen an. Großartig. Ein Wunder ist geschehen.“

Andrea kam beseelt von ihren eigenen Postkarten nach draußen und betrachtete den Wagen.

„Andrea, sieh nur. Die ganzen Sterne, so wie ich mir das immer erträumt habe. Habe ich nicht immer gesagt, ich liebe meinen Wagen, aber ein Stern ist doch viel zu langweilig? Einer? Hunderte. Hunderte Sterne braucht mein Wagen.“

„Ja, das hast du gesagt, mein lieber Anton, und dann hast du gesagt, ja, aber, ja aber, das geht doch nicht, hast du dann immer gesagt, was sollen denn die Nachbarn denken, das hast du gesagt.“

„Ja, richtig. Nie habe ich mich getraut, immer ja aber und nun ist es einfach geschehen. Großartig. Ich bin so glücklich, Andrea.“

Sie küsste ihn auf den Mund, dann nahmen sie gemeinsam die Koffer und verschwanden im Haus.

Lila Panini und Kauzelwutz zuckten mit den Schultern und umarmten sich.

„Bis morgen, Lila Panini.“

„Bis morgen, Kauzelwutz.“

Lila Panini schwang sich auf sein BMX-Rad und radelte direkt in das Ende des Sommers.