Dierk Seidel

Kann passieren

Die Menschen drängten sich an der Eingangstür, so als würde der Zug ohne sie abfahren. Doch das tat er nicht. Ohnehin mussten zuvor die derzeitigen Fahrgäste aussteigen. Als alle ausgestiegen waren, schob ich mich links hinein, ging an der Toilettenkabine vorbei und setzte mich an einen Fensterplatz in einer 5er Sitzgruppe, die es hier nur selten gab. Um mich herum füllte sich der Wagen. Ich stellte meinen Rucksack auf den Boden ab und klemmte ihn zwischen meine Beine. Es setzte sich niemand neben mich. Auf der anderen Seite des Zuges am Gang telefonierte ein Mann so laut, dass ich immer mal wieder dachte, er meine mich.

„Da müssen Sie doch mit gerechnet haben“, sagte er. Oder er  sagte: „Wo denken Sie hin, es kann doch nicht zu viel verlangt sein, ein wenig Platz zu schaffen. Für die Waren im Lager.“

Ich setzte meine Kopfhörer auf und wählte in meiner Playlist „Mr. Crowley“ von Ozzy Osbourne. Die drei Plätze vor mir blieben bis kurz vor der Abfahrt frei. Plötzlich schmiss ein großer Mann, bestimmt 1,90 groß, eine volle Ikeatasche auf den mittleren Sitz und setzte sich mir gegenüber ans Fenster. In der rechten Hand hielt er, leicht wackelnd, einen Becher Kaffee und stellte ihn auf die kleine Ablage auf dem Mülleimer. Ich nickte ihm zu. Er beachtete mich aber nicht weiter, sondern kramte in seiner Ikeatasche.
Das Solo von Zakk Wylde strömte über die Kopfhörer in meine Ohren und weiter in meine Seele.

Ich horchte auf, was war das? Rechts neben der Ikeatasche saß nun ein weiterer Mann, der immer wieder fragte: „Ist das hier der Zug nach Emden? Und wenn ja, kann mir einer sagen, wie lange der fährt? Ist das der RE15 nach Emden? Wann kommt der an? Kann mir das jemand sagen?“

Niemand reagierte. Genau in dem Moment, als ich etwas sagen wollte, riss mein Gegenüber ein kleines Döschen mit Kondensmilch auf. Er schwankte auf seinen Kaffeebecher zu, angespannt verfolgte ich den Mann, ehe ich sagte: „Ja, nach Emden, ca. 2 Stunden.“

Der Kaffeebecher kippte auf den Boden und die Kondensmilch direkt hinterher. Reflexartig zog ich meinen Rucksack hoch und betrachtete ihn. Glück gehabt. Der Mann blieb ruhig und vollkommen entspannt. Kaffee und Milch liefen zur Gangmitte. Der Mann kramte in seiner Tasche, holte nach einiger Zeit zwei Küchenrollen hervor und bedeckte weiträumig den Boden. Kein anderer Fahrgast reagierte, alle waren in ihrer eigenen Welt.

„Das glaubst du nicht, was hier passiert ist“, sagte der Smartphone-Typ am Gang in sein Smartphone, „ich habe die Moni am Gleis getroffen, aber sie musste in die andere Richtung.“

Der Mann kniete mittlerweile auf dem Boden zwischen seinem Sitz und meinen Knien und wischte unter der Sitzreihe den Kaffee auf. Dabei stieß er immer wieder gegen meine Beine. Als er fertig war, richtete er sich auf und blickte mich an. Schweiß tropfte von seinem Gesicht. Ich wollte ihn etwas aufmuntern.

„Kann passieren“, sagte ich.

„Ist passiert“, sagte er.